Der Dämon blickte zu ihr hinab und hob ihr Kinn mit seiner Hakenklaue leicht an. Ich würde Euch so etwas nie antun, mein Schatz… Ich würde Euch und mich vereinen...
Tyrande blickte in sein schreckliches Antlitz. Sie lächelte. Dann tut es!
Mein Liebling... Er legte beide Klauenhände auf ihre Schultern. Seine Augen funkelten. Das Feuer schoss hervor. Es schloss Tyrande ein. Malfurion schrie, doch das änderte nichts. Die Hohepriesterin wurde davon eingehüllt.
Und dann... veränderte sich Tyrande.
Hörner entstanden auf ihrer Stirn, Hörner, die hoch aufragten und sich dann wölbten. Aus ihrem Rücken traten Wülste, die schnell größer wurden und sich ausbreiteten. Netzartige Flügel entfalteten sich. Die Nägel ihrer schlanken Hände, die Illidan festhielt, wuchsen und wurden schwarz.
Nein!, versuchte Malfurion zu rufen. Nein!
Tyrande richtete ihren Blick auf den Erzdruiden. Doch jetzt waren ihre Augen glühende grüne Kugeln. Sie legte die Stim in Falten und starrte den hilflosen Malfurion an.
Das habt Ihr mir angetan.... sagte sie... Ihr...
Der Erzdruide gab ein stummes Flehen von sich... und erwachte.
Er steckte immer noch in seiner Traumgestalt, war immer noch gefangen und qualvoll verdreht. Doch er entdeckte, dass das Leid, das er gerade durchgemacht hatte, nicht echt gewesen war – jedenfalls noch nicht.
Doch Malfurion empfand keine Erleichterung. Es war nicht das erste Mal, dass er einen solchen Albtraum durchlebt hatte, und es wurde immer schwerer zu unterscheiden, wann er schlief und wann er wach war.
Sein Peiniger trieb ein böses Spiel mit ihm. Eines, von dem der Erzdruide wusste, dass er es langsam, aber sicher verlor.
Und obwohl es nur ein Albtraum gewesen war, hatte das Erlebnis ihn erschöpft, beeinflussbarer gemacht.
Tyrande, dachte Malfurion. Es tut mir so leid...
Vielleicht denkt sie gar nicht mehr an dich, erklang eine neue Stimme in seinem Geist. Nach so langer Zeit, nachdem sie so oft verlassen wurde. Das Schicksal so vieler lastet auf ihr, während du dich vor der Welt und deiner Verantwortung versteckt hast.
Malfurion versuchte, den Kopf zu schütteln, doch er hatte gar keinen Kopf mehr, um das tun zu können.
Die Stimme meldete sich erneut. Wie eine giftige Kreuzotter kroch sie durch Malfurions Seele. So wie du den anderen verlassen hast, der dir so wichtig war. Ihn verraten, in die Gefangenschaft getrieben und in die Verdammnis geschickt hast...
Illidan.
Malfurion hatte versucht, seinen Zwillingsbruder zu retten. Doch am Ende hatte Illidans Ehrgeiz ihn zu dem gemacht, was Malfurion bekämpfen musste. Einen Dämon. Hätte Malfurion von Anfang an anders gehandelt, seinem Bruder vielleicht geholfen, statt ihn einzusperren, dann hätte Illidan möglicherweise gerettet werden können.
Nein!, loderte es durch den Geist des gefangenen Erzdruiden. Ich habe versucht, ihm zu helfen! Ich ging immer wieder zu seinem Kerker, in der Hoffnung, ihn zurück zum Licht führen zu können.
Aber du hast versagt... du versagst immer... du hast vor dir selbst versagt, und deshalb wirst du vor Azeroth versagen...
Im Smaragdgrünen Traum – dem Albtraum – wurde das Wesen, das einst Malfurion Sturmgrimm gewesen war, weiter verändert. Er leuchtete nicht mehr im hellen Grün, das seine Traumgestalt immer annahm, wenn sie das magische Reich betrat. Stattdessen hüllte ein düsterer Schatten ihn ein.
Eine noch dichtere Dunkelheit umgab den eingesperrten Erzdruiden – der einzige Hinweis auf jene Kreatur, die sich selbst Albtraumlord nannte. Von der scheußlichen Finsternis ausgehend, strebten Ranken auf Malfurion zu, die nicht nur die Veränderung seiner Gestalt nährten, sondern auch weiter in den Geist des Nachtelfen vorstießen und ihn immer mehr in einen Baum verwandelten.
Ein Gewächs, das aus nichts anderem zu bestehen schien als aus unfassbarem, quälendem Schmerz...
Malfurions Gruft sah noch genauso aus, wie Tyrande Wisperwind sie von ihren beiden Visionen und früheren Besuchen in Erinnerung hatte. Von der wahren Person hinter der Legende war wenig zu sehen. Die Gruft bestand aus einer Reihe von unterirdischen Gängen, in die sich niemals ein Sonnenstrahl verirrte, doch Nachtelfen waren Kreaturen der Dunkelheit und verfügten zudem über mystische Kräfte. Statt Öllampen erhellte sanftes Mondlicht die Hauptkammer, was den Gebeten der Schwesternschaft zu verdanken war.
Der Erzdruide lag aufgebahrt, als würde er schlafen – was er in gewissem Sinne auch tat. Nur seine offenen Augen gaben einen Hinweis darauf, dass er noch lebte.
Die diensthabende Priesterin trat beiseite. Einer nach dem anderen aus der Gruppe begab sich zu dem reglosen Körper. Die Druiden knieten ehrfürchtig vor ihrem Gründer, während die Schwestern der Elune sich einfach verneigten, Groll fand, dass das Geschehen an eine Beerdigung erinnerte. Doch diesen Gedanken behielt er für sich, besonders, weil Malfurions Geliebte dabei war.
Als die Hohepriesterin an der Reihe war, beugte sie sich so tief herab, dass es zuerst so aussah, als wolle sie Malfurion küssen, was für die meisten nicht überraschend gewesen wäre. Doch im letzten Moment zog Tyrande ihren Kopf zurück und strich stattdessen über seine Stirn.
„Kalt...“, murmelte sie. „Kälter, als er sein sollte...“
„Wir sprachen die Gebete regelmäßig“, antwortete Merende sofort. Ein Hauch von Überraschung schwang in ihrem Tonfall mit. „Es dürfte sich nichts geändert haben...“
Es war kein Groll in Tyrandes Stimme, als sie antwortete: „Ich weiß... aber er ist kälter... Elunes Vision ist wahr...“ Sie blickte zu ihm. „Und seine Augen verlieren den goldenen Glanz... als würde er seine Verbindung zu Azeroth verlieren...“
Sie trat schließlich zurück und machte Platz für den obersten Erzdruiden. Fandral verbrachte noch mehr Zeit bei Malfurion als die Hohepriesterin. Er flüsterte etwas und strich mit beiden Händen über den Körper des Erzdruiden. Broll sah, wie er etwas Pulver über der Brust verteilte und fragte sich, was Fandral vorhatte. Die Priesterin und der Druide hatten bereits Zauber gewirkt, die dabei helfen sollten, Malfurions Körper zu erhalten und seine ersehnte Rückkehr vorzubereiten.
Der oberste Erzdruide wischte eine Träne fort und trat zurück. Broll betete zu den Geistern des Waldes, dass, was immer Fandral vorhatte, helfen möge. Sie brauchten Malfurion mehr denn je, besonders wenn Teldrassils Krankheit nicht mit ihren Kräften zu heilen war.
„Meine Schwestern werden ihre Anstrengungen erhöhen“, sagte Tyrande nach kurzer Diskussion mit Merende und den anderen beiden Priesterinnen. „Elune wird ihnen Kraft geben, seinen Körper am Leben zu erhalten... zumindest für eine Weile. Aber wir müssen das Problem schnellstens lösen.“
„Hier können wir nichts mehr tun“, bemerkte Fandral mit einem respektvollen Blick auf Malfurion Sturmgrimms Körper. „Lasst uns wieder nach draußen gehen...“
Als die Druiden und die anderen gehorchten, bemerkte Broll, wie Tyrande Malfurion an der Wange berührte. Dann verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck, und sie folgte Fandral, als wollte sie in den Krieg ziehen.
Die Düsternis von Malfurions Kammer wich der üppigen Schönheit des Landes an der Oberfläche – einer bergigen Region, gesprenkelt mit zahllosen Hügeln, unter denen die Heiligtümer anderer Druiden lagen. Zwischen den Gräbern befanden sich Bögen aus Stein oder Holz, die mit üppigem, lebendigem Grün geschmückt waren. Das verlieh der Mondlichtung ein fremdartiges Aussehen.
Dennoch war es mehr als der sichtbare Eindruck, der die Mondlichtung zu dem machte, was sie war. Als Druide konnte Broll den tiefen Frieden spüren, der allem hier innewohnte. Es stand außer Frage, warum die Druiden diesen Ort so verehrten.