Der Nachtelf versteifte sich. Hatte er... sie gehört?
Broll setzte sich leise auf.
Vater...
Da war es wieder. Er kannte die Stimme besser als seine eigene. Broll zitterte. Sie konnte es nicht sein. Es konnte nicht... konnte niemals... Anessa sein – oder etwa doch?
Er blickte zu Hamuul, dessen Schnarchen gleichmäßig blieb. Der Tauren hatte nichts bemerkt. Broll war beinahe überzeugt, sich das vermeintlich Gehörte nur eingebildet zu haben, als...
Vater... Ich brauche Euch...
Anessa! Broll schnappte nach Luft. Er hatte sie gehört!
Der Druide reagierte instinktiv, stand auf und blickte auf der Suche nach seiner Tochter in den Wald. Er rief nicht nach ihr. Er fürchtete nicht nur, damit die anderen aufzuwecken, sondern auch, dass er seine geliebte Tochter verjagen würde.
Aber, erinnerte ihn ein Teil von ihm, Anessa ist tot... und ich bin schuld daran...
Obwohl er sich dieser Sache mehr als bewusst war, spürte Broll, wie sein Herz heftiger denn je schlug. Er tat einen vorsichtigen Schritt in die Richtung, aus der er glaubte, den Ruf gehört zu haben.
Vater... Helft mir...
Tränen stiegen in die Augen des Druiden. Er dachte an Anessas Tod und daran, welche Rolle er dabei gespielt hatte. Der alte Schmerz rührte sich wieder. Erinnerungen an die Schlacht stiegen auf.
Ja, Anessa war tot.
Aber sie ruft mich!, beharrte sein Innerstes. Dieses Mal kann ich sie retten!
Etwas Schattenhaftes bewegte sich unter den Bäumen direkt vor ihm. Broll wandte sich der kaum sichtbaren Gestalt zu.
Plötzlich verschwamm, die Welt des Druiden. Die Bäume bewegten sich, als bestünden sie aus Rauch. Die schemenhafte Gestalt entfernte sich. Der Himmel wurde zum Boden und der Boden zum Himmel. Broll kam es so vor, als hätten seine Knochen sich verflüssigt. Er versuchte, seine Tochter zu rufen.
Etwas näherte sich ihm aus dem Wald, wuchs zu erschreckenden Proportionen an. Aber noch immer konnte der Druide keine klaren Gesichtszüge erkennen. Es sah fast so aus wie -
Broll versuchte zu schreien.
Er erwachte.
Seine Sinne kehrten allmählich zurück. Dem Nachtelfen dämmerte, dass einige Dinge, die ihn umgaben, irgendwie falsch waren.
Die Umgebung war anders als zuvor. Er stand nicht länger am Waldrand, sondern lag auf dem Boden, so als hätte er geschlafen. Blinzelnd blickte Broll auf. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, mussten mehrere Stunden vergangen sein.
Die Lieder der Vögel und das Seufzen des Windes begrüßten ihn. Doch ein anderes Geräusch fehlte. Er blickte zur Seite und sah, wie Hamuul ihn voller Ernst betrachtete. Der Erzdruide kniete neben ihm und schüttelte seinen Freund.
„Du bist wach“, bemerkte der Tauren. „Geht es dir nicht gut? Du siehst...“
Der Nachtelf ließ ihn den Satz nicht vollenden. „Es war ein Traum. Oder wohl eher ein Albtraum...“
„Ein Traum... nun, wenn du meinst.“ Hamuul war einen Augenblick lang still, dann sagte er: „Ich bin schon früher aufgewacht. Schließlich ist es heller Tag. Und ich bin kein Nachtelf, habe einen leichten Schlaf. Du hast etwas gemurmelt. Es war... ein Name“, fuhr der Tauren mit leichtem Zögern fort. „Der Name von jemandem, der dir nahe steht.“
„Anessa...“ Teile des Albtraums kehrten zurück. Broll schauderte. Er hatte schon früher von seiner Tochter geträumt, doch nie auf diese Weise.
Der Tauren neigte bei der Erwähnung von Brolls verlorenem Kind wieder den Kopf. „Anessa, ja...“ Er blickte zu dem Nachtelfen auf. „Jetzt geht es dir wieder gut, oder, Broll Bärenfell?“
„Mir geht es jetzt gut. Danke...“
„Das war nicht natürlich, Broll Bärenfell... genauso wenig wie deine früheren Visionen – obwohl, glaube ich, jede von ihnen anders war.“
„Es war nur ein schlimmer Albtraum, Hamuul.“ Brolls Tonfall machte deutlich, dass er über diesen Punkt nicht weiter reden wollte. „Weder er noch andere bedeuten irgendetwas.“
Der Tauren blinzelte, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich will nicht darauf herumreiten, mein Freund. Es würde deine Qualen nur verstärken. Doch wir wissen beide, dass es nicht stimmt...“
Bevor jemand noch etwas anderes sagen konnte, erklang aus den Wäldern ein fernes knisterndes Geräusch. Broll verspannte sich augenblicklich, und Hamuuls Augen weiteten sich.
Hinter den Bäumen trat eine Gestalt hervor. Doch es war nicht der Schatten von Anessa, der auf die Ebene der Sterblichen zurückgekehrt war. Vielmehr handelte es sich um eine der Priesterinnen, die Tyrande zur Mondlichtung begleitet hatten.
„Meine Herrin wünscht, mit Euch zu sprechen, Druide“, sagte die schlanke Gestalt zu Broll. Ihr Blick wanderte zu dem Tauren. „Sie will, dass Ihr allein kommt – und mit dem gebührenden Respekt, Druide...“
Die Priesterin wartete die Antwort nicht ab, stattdessen verschwand sie wieder in den Hügelwäldern. Als Druide hätte Broll ihr leicht folgen können. Doch ihr vorsichtiges Verhalten und ihre kurze, irgendwie mysteriöse Nachricht machten klar, dass eine solche Reaktion nicht angebracht war. Er musste allein gehen, so als wäre es seine Entscheidung gewesen.
„Gehst du hin?“, fragte Hamuul.
„Ja“, antwortete der Nachtelf sofort. „Das werde ich.“
„Ich verrate nichts.“
Das Versprechen des Tauren bedeutete Broll viel. Dankend nickte der Nachtelf und brach auf. Seine Gedanken waren bereits bei den möglichen Gründen, warum die Hohepriesterin der Elune und Herrscherin der Nachtelfen ein geheimes Treffen mit ihm wünschte. Tyrande Wisperwind hatte etwas vor, das sie vor vielen anderen geheim halten wollte, auch vor Erzdruide Fandral Hirschhaupt.
Und Broll hatte eine furchtbare Ahnung, was sie beabsichtigte.
5
Der Verrat des Druiden
„Er ist gekommen“, raunte die Wache Tyrande vom Eingang des Zeltes aus zu.
„Bittet ihn herein und achtet auf jeden, der sich nähert“, befahl die Hohepriesterin.
Mit einem Nicken ging die Wache hinaus. Einen Augenblick später trat Broll Bärenfell respektvoll ein. Der Druide verneigte sich tief, wie ein Untertan vor seiner Herrscherin. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Hohepriesterin, Ihr habt mich gerufen...“
„Seid hier nicht so formell, Broll. Wir kennen uns schon eine ganze Weile.“
Der Druide nickte, erwiderte aber nichts.
„Bitte“, begann die Hohepriesterin und wies auf eine Grasmatte, in die komplexe Mondmuster eingearbeitet waren. „Nehmt Platz.“
Broll schüttelte den Kopf. „Wenn es Euch nichts ausmacht, ziehe ich es vor zu stehen.“
Sie nickte. „Nun gut. Ich werde mich ohnehin kurz fassen... und ich sage Euch gleich, dass Ihr jedes Recht habt, meine Bitte abzuschlagen.“
Seine dichten Augenbrauen hoben sich. Tyrande hätte ihm einfach befehlen können, all ihren Wünschen nachzukommen. Doch das war nicht ihre Art.
„Broll... Ihr seid der Einzige, den ich das fragen kann. Malfurion vertraute Euch mehr als jedem anderen. Und so lege ich mein Vertrauen in Eure Hände – immerhin tragt Ihr das Zeichen der Größe, und Eure Taten während des Dritten Krieges haben seine Stärke unter Beweis gestellt.“ Sie blickte zu seinem Geweih.
„Ihr schmeichelt mir, Herrin.“ Der Druide schlug die Augen nieder. „Und Ihr übertreibt. Die Zeit, die ich von meinesgleichen fort war, dürfte mir kaum seine Wertschätzung eingebracht haben, wenn er davon erfahren hätte...“ Seine Augen wanderten zu der Gleve auf dem Tisch.
Tyrande blickte ihn eindringlich an. Sie hatte die primitive Waffe bewusst in Sichtweite platziert, um Broll an seine Vergangenheit als Gladiator zu erinnern. Die Hohepriesterin hatte ihn für die Aufgabe ausgewählt, weil sie hoffte, dass Brolls jüngste Heldentaten in fernen Landen seine Loyalität Malfurion gegenüber gestärkt hatten. Dann würde er vielleicht auch vom offiziellen Weg abweichen, den der Zirkel des Cenarius eingeschlagen hatte.