„Aber ich bin n ich t Azshara. Ich werde niemals Azshara sein...“, sagte die Hohepriesterin nicht zum ersten Mal.
„Ihr könntet nie wie sie sein, Herrin... Ihr seid eine weitaus würdigere Herrscherin...“
Tyrande wandte sich um, und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Würdiger? Ihre ergebensten Anhänger lobten Azshara vielleicht auf genau die gleiche Weise, Shandris...“
Die Kriegerin trug eine Rüstung, die vom Hals hinab reichte. Sie bestand aus einer hautengen Brustplatte, Schulterpolstern und metallenen und ledernen Beinschützern, die von ihrer Hüfte bis zu den dazu passenden Stiefeln reichten. Der größte Teil der Rüstung war von grünlicher Farbe und mit einem Violett versetzt, das der Hautfarbe der meisten Nachtelfen glich.
„Immerhin gebührt Euch dieses Lob.“ Shandris Mondfeder zog die Handschuhe aus. Sie kam unbewaffnet zur Hohepriesterin, so, wie es in Darnassus Sitte war – eine Sitte, die die Generalin der Nachtelfen nach Kräften förderte. Ihre Gesichtszüge waren noch klarer geschnitten als die der meisten ihrer Art, und in ihren stets zusammengezogenen Augen lag eine fast schon enthusiastische Entschlossenheit. Tyrande wusste, dass diese Entschlossenheit nur ihr allein galt. Shandris Mondfeders ganzer Lebensinhalt bestand darin, der Hohepriesterin zu dienen.
Tyrande erinnerte sich an das Waisenkind, das sie einst während des Vorstoßes der Brennenden Legion im schrecklichen Ersten Krieg vor zehntausend Jahren gerettet hatte. Die ehemals unschuldigen, furchterfüllten Augen hatten sich mittlerweile verändert. Shandris war die Tochter geworden, die Tyrande nie gehabt hatte... und die sie auch nie erwartet hatte.
Shandris reckte den Hals, der von einem ledernen und metallenen Kragen geschützt wurde. Unter ihren Augen schienen grobe Tätowierungen Tyrande zu verspotten, weil sie den furchterregenden Blick der jüngeren Nachtelfe unterstrichen. Die Hohepriesterin hatte nie gewollt, dass sich die verschreckte junge Waise in eine Kriegsmaschine verwandelte, dennoch hatte sie es getan.
„Darüber gibt es nichts zu reden, Shandris“, merkte die Hohepriesterin mürrisch an und bezog sich damit auf die hohe Meinung, die die Generalin von ihr hatte.
„Stimmt, weil ich recht habe.“ Obwohl sie ihrer Retterin jeden Respekt zollte, war Shandris die einzige Person, die stets geradeheraus und unverblümt mit Tyrande sprach. Die Generalin wechselte das Thema. „Ich kam allein und heimlich an diesen Ort, wie Ihr es befahlt, bevor Ihr die Insel verließet. Könnt Ihr mir nun den Grund nennen? Wegen der Mondlichtung vermute ich mal, dass es etwas mit den Druiden zu tun hat.“ Während sie sprach, ging sie auf und ab wie ein Nachtsäbler, eine der großen Raubkatzen, die den Schildwachen sowohl als Lasttiere als auch als Waffe dienten.
„Ja, es hat mit den Druiden zu tun... und mit Malfurion im Besonderen.“
Shandris nickte, ihr Gesichtsausdruck war unergründlich. „Wir müssen einen Weg finden, ihn zu uns zurückzubringen, Shandris. Und das aus vielerlei Gründen. Was auch immer im Smaragdgrünen Traum passiert, betrifft nicht nur die Druiden. Ich glaube, es berührt auch Teldrassil... und vielleicht sogar andere Teile von Azeroth...“
Die Augen der Generalin wurden zu schmalen Schlitzen. „Es hat einige vage Berichte gegeben, außerdem Gerüchte aus den Menschen- und Zwergenländern. Stets ging es darum, dass Schlafende nicht mehr aufwachen können. Mir fiel gleich auf, dass es Parallelen zu Malfurion geben könnte...“
Tyrande blickte zum Mond, um etwas Trost zu bekommen. Dann legte sie eine Hand auf Shandris’ Schulter und murmelte: „Elune hat mir gezeigt, dass Malfurion stirbt. Ich dachte, das wüsstet Ihr bereits.“
Die Generalin schaute ihr in die Augen. „Weiß ich auch. Und es tut mir leid, so leid.“
Tyrande lächelte traurig. „Danke. Aber Elune zeigte mir auch, wie all dies weit über meine persönlichen Befürchtungen hinausreicht. Ich muss dafür sorgen, dass alles zum Wohle Azeroths getan wird... und deshalb habe ich Euch gerufen.“
Shandris Mondfeder fiel sofort auf die Knie. „Befehlt, was Ihr wollt, Herrin! Ich werde gehorchen und gehen, wohin Ihr wollt. Mein Leben gehört Euch... auf ewig!“
Die alte Schuld meldete sich wieder. „Ich muss Euch um einen riesigen Gefallen bitten. Einen Gefallen, keinen Befehl...“
„Dann fragt!“
„Ihr kennt doch Broll Bärenfell.“
„Er ist mehr Krieger als Druide, Herrin“, gab Shandris zur Antwort.
„Broll reist nach Eschental, um Malfurion zu retten. Wisst Ihr, warum?“
In ihrem Bestreben, die bestmögliche Kommandeurin zu sein, hatte Shandris ein Netzwerk zur Sammlung von Informationen aufgebaut, das sich weit über Darnassus und das Land der Nachtelfen hinaus erstreckte. Deshalb war sie bestens über Eschental informiert. Shandris’ Miene verschloss sich, doch es war auch ein Hauch von Zustimmung zu erkennen.
„Es ist gewagt. Gefährlich. Aber auch, wie ich glaube, die einzige Hoffnung, die wir noch haben.“
„Ich will nicht, dass er allein geht.“
„Ich hatte so etwas schon vermutet. Deshalb habe ich mich auf eine lange Reise vorbereitet!“ Die Augen der Nachtelfe leuchteten vor Vorfreude. Shandris sprang auf und presste ihre Faust gegen die Brust. „Ich kann von hier aus sofort aufbrechen! Ich kenne die Gefahren und die Dringlichkeit dieser Mission! Sie kann nicht irgendjemandem anvertraut werden...“
„Genau.“ Tyrande straffte sich, entschlossen, jetzt als Herrscherin zu sprechen. „Und deshalb werde ich ihn dabei begleiten.“
Ihre Worte schlugen ein wie ein Blitz. Shandris taumelte einen Schritt zurück. Sie starrte die Hohepriesterin an.
„Ihr? Aber Darnassus braucht Euch! Ich bin diejenige, die gehen sollte...“
„Elune hat mir gezeigt, dass ich als ihre Hohepriesterin am besten dafür geeignet bin. Diese Aufgabe erfordert sämtliches Wissen der Schwesternschaft, und als ihre Führerin kann ich die Erledigung von keinem anderen verlangen. Außerdem kennt niemand Malfurion so gut wie ich... niemand ist derart an ihn gebunden. Wenn jemand seine Traumgestalt zu finden vermag, dann ich.“ Ihr Blick war fest. „Und während es mein ganz persönliches Bestreben ist, Malfurion zu retten, könnte er auch Azeroths einzige Hoffnung sein. Als Hohepriesterin muss ich Broll begleiten...“
Shandris nickte schließlich. Doch obwohl sie ihr zustimmte, hatte die Generalin noch Fragen. „Was hält Fandral davon?“
„Ich bin Fandral keine Rechenschaft schuldig.“
„Manchmal scheint er das nicht zu wissen.“ Shandris’ Worte wurden von einem Lächeln begleitet. Sie war eine der wenigen, die wusste, dass er und ihre Herrin nicht immer einer Meinung darüber waren, wie Tyrande regierte. Besonders, wenn ihre Entscheidungen die Druiden betrafen.
Dann wurde sie wieder ernst. „Und Darnassus?“
„Es liegt an Euch, Darnassus zu bewachen, Shandris, wie Ihr es sonst auch tut, wenn ich wegen Regierungsgeschäften fort muss.“
„Das ist wohl kaum dasselbe...“ Wieder kniete sich die Kriegerin hin. „Trotzdem werde ich Stadt und Reich selbstredend beschützen, bis Ihr zurückkehrt.“
Ihre Betonung des letzten Wortes klang fast wie ein Befehl, dass Tyrande auf jeden Fall zurückkommen müsse. Die Herrscherin der Nachtelfen streckte die Arme aus und berührte Shandris an der Wange. „Meine Tochter...“
Die hartgesottene Kriegerin sprang vor und schlang die Arme um die Hohepriesterin. Shandris vergrub ihr Gesicht an Tyrandes Hals. „Mutter...“, flüsterte sie mit einer Stimme, die genauso klang wie die der verschreckten Waise vor so langer Zeit.
Genauso schnell zog sich Shandris zurück. Abgesehen von einer Träne auf der Wange war sie wieder ganz die erfahrene Kommandeurin der Schildwachen. Sie salutierte vor Tyrande.