Broll berührte eine Eiche, hoffte, dadurch etwas zu erfahren. Dabei entdeckte er etwas Beunruhigendes. Der Baum schlief, und nicht einmal das Anstoßen des Druiden konnte ihn aufwecken. Er ging zu einem zweiten Baum, dieses Mal eine Esche, und stellte fest, dass es hier dasselbe war.
Beunruhigt entschied sich Broll schließlich, die nebelverhangene Stadt selbst zu betreten. Kurioserweise verdichtete sich der Nebel, als er eintrat. Selbst der scharfe Blick des Druiden konnte den Schleier nur ein paar Zentimeter weit durchdringen.
Der Druide schnüffelte in der Luft. Zu seiner Erleichterung roch er kein verwesendes Fleisch. Er hatte befürchtet, dass irgendeine Katastrophe – Seuche oder Angriff- die Bevölkerung dahingerafft haben könnte. Doch schien das nicht der Fall zu sein. Die Feuchtigkeit von Auberdines Luft, die zum großen Teil von der nahe gelegenen See stammte, hätte tote Körper schnell verwesen lassen. Mehrere hundert Leichen hätten einigen Gestank verursacht.
Die Bauweise der Häuser in Auberdine zeigte die typischen geschwungenen Bögen der Nachtelfen und hätte Broll eigentlich Trost spenden sollen. Doch in dem Nebel wirkten die Gebäude, als wären sie aus Knochen gefertigt. Broll berührte sie sogar, um sicherzugehen, dass nicht eine schreckliche Metamorphose stattgefunden hatte. Doch das Holz war nur Holz...
Etwas näherte sich. Das Geräusch war nur kurz aufgeklungen und wiederholte sich nicht. Doch Broll hatte es gehört. Mit blitzschnellen Reflexen, die er als Druide beherrschte und die er durch lange Jahre des Kampfes noch verfeinert hatte, tauchte er augenblicklich in die Deckung eines der Gebäude ein. Er glaubte nicht, dass der andere ihn gehört hatte, was dem Druiden einen Vorteil verschaffte.
Ein kurzes Grunzen entschlüpfte dem Nebel. Es war kein Geräusch, das von einem Nachtelfen ausgestoßen worden war oder jemandem aus einem ähnlichen Volk. Das Geräusch stammte von einem Tier. Etwas sehr Großes strich durch Auberdines Straßen.
Broll griff in seinen Beutel und holte ein Pulver hervor, das seine Finger reizte. Er ignorierte die Schmerzen und schaute um die Ecke.
Eine große Gestalt näherte sich seiner Position. Was auch immer das für eine Bestie war, sie hatte ihn schließlich gewittert.
Broll warf das Pulver auf das Tier.
Die Bestie stieß ein wütendes Krächzen aus und sprang hoch. Broll duckte sich und hoffte, dass die Kreatur nicht auf ihn springen würde. Doch sie landete nicht einmal auf dem Weg hinter ihm. Stattdessen schoss das Tier himmelwärts und sprang auf eines der nahe gelegenen Gebäude. Dort hockte es sich hin und begann zu niesen und zu fauchen.
Zur gleichen Zeit fraß ein silbernes Licht den Nebel auf, der Broll umgab. Der Nachtelf wirbelte nach rechts herum.
Das Licht kam von oben. Im Glänze stand eine Priesterin der Elune. Broll wollte sie gerade auffordern, das grelle Licht einzudämmen, als er erkannte, wer da näher kam.
„Mylady... Hohepriesterin! Was macht Ihr denn hier?“
„Euch treffen, auch wenn ich das eigentlich so nicht geplant hatte.“ Ihre Augen wanderten von einer schattigen Ecke zur nächsten, als erwartete sie, unerwünschte Besucher zu entdecken.
Der Druide starrte sie mit offenem Mund an. „Ihr selbst habt mir gesagt, dass ich mich hier mit Shandris treffen würde. Ich hatte sie erwartet...“
„Das gilt auch für sie. Doch es ist einfach meine Mission... und je länger ich an diesem Ort bin, desto mehr weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war. Wenn ich Euch verraten hätte, dass ich selber komme, hättet Ihr vielleicht abgelehnt. Und das durfte ich nicht zulassen.“
„Hohepriesterin, Ihr solltet nicht hier sein! Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht in Auberdine...“
Sie nickte ernst. „Kommt mit mir, und Ihr werdet sehen, was das genau ist.“
Über ihnen krächzte das Reittier wütend – ihr Hippogryph, wie Broll vermutete. Tyrande flüsterte ihm etwas zu. Der Hippogryph sank widerstrebend tiefer und landete nah seiner Reiterin. Eines seiner unheilvollen Augen war auf den Druiden gerichtet.
„Was habt Ihr mit Jai gemacht?“, fragte sie ruhig. Dabei strich sie mit der Hand über seinen Schnabel.
„Es war ein beißendes Kraut...“
Die Hohepriesterin lächelte. „Ihr hattet Glück, wage ich mal zu behaupten. Wenn Ihr etwas anderes versucht hättet, wäre Jai nicht vor Euch weggeflogen, sondern durch Euch hindurch. Er wusste natürlich, dass ich, wenn möglich, einen Gefangenen machen wollte. Einen lebendigen.“
Als Tyrande weiterhin mit der Hand über das Gesicht des Tieres strich, sagte Brolclass="underline" „Die Wirkung der Kräuter wird in ein paar Augenblicken verfliegen.“
„Wir haben nicht mal Zeit dafür.“ Ein schwaches Leuchten strömte aus ihrer Hand zu den Augen des Hippogryphs. Jai schüttelte den Kopf, dann wirkte er schon glücklicher. Zufrieden nickend blickte die Hohepriesterin wieder zu dem Druiden. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt ernster denn je. „Kommt mit mir. Ich muss Euch etwas zeigen.“
Mit dem Hippogryphen im Schlepp führte Tyrande Broll zu den nächstgelegenen Häusern. Sie schockierte den Druiden, als sie ohne zu zögern ein Gebäude betrat. Es war ein Zeichen, dass die Dinge bereits schlimmer standen, als er gedacht hatte. Er hatte eine böse Vorahnung, was sie drinnen Schreckliches vorfinden würden.
Das Haus wirkte wie ein typisches Heim von Nachtelfen. Der Nebel, der Auberdine bedeckte, durchdrang auch dieses Gebäude und verstärkte das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe.
Jai, der zu groß war, um durch den Eingang zu passen, lugte unruhig hinein. Broll sah, wie Tyrande in die Schlafquartiere blickte. Sie trat zurück und forderte Broll mit einer Geste auf, selbst hineinzuschauen.
Vorsichtig folgte der Druide ihrem Wunsch. Seine Augen weiteten sich angesichts des Anblicks drinnen.
Zwei Nachtelfen – ein Mann und eine Frau – lagen auf gewebten Matten. Der Arm der Frau lag über der Brust des Mannes. Beide waren völlig reglos, was Broll das Schlimmste befürchten ließ.
„Es ist genauso wie überall, wo ich nachgesehen habe“, bemerkte seine Begleiterin ernst.
Der Druide wollte zu dem Paar eilen, doch aus Respekt hielt er Abstand. „Wisst Ihr, wie sie gestorben sind?“
„Sie sind nicht tot.“
Er blickte zu ihr und kniete neben den beiden nieder.
Beide atmeten ruhig und gleichmäßig.
„Sie... schlafen?“
„Ja – und ich konnte die anderen nicht aufwecken, die ich vorher fand.“
Trotzdem konnte Broll nicht widerstehen, den Mann an der Schulter anzutippen. Als er ihn so nicht wach bekam, wiederholte er es bei der Frau. Als letzten Versuch nahm Broll einen Arm von jedem und schüttelte daran. Der Druide knurrte: „Wir müssen die Quelle dieses Zaubers finden! Hier muss ein wahnsinniger Magier am Werk gewesen sein!“
„Man muss schon sehr mächtig sein, um so etwas anzurichten“, sagte die Hohepriesterin. Sie wies zur Tür. „Kommt mit mir. Ich will Euch noch etwas zeigen.“
Sie verließen das Heim mit Jai im Gefolge. Tyrande führte Broll über eine Brücke, die zum Händlerviertel von Auberdine führte. Der Nebel verbarg viele Details des Dorfes, doch Broll erspähte ein Schild, das sowohl auf darnassisch als auch in der Gemeinsprache beschriftet war, und auf dem schlicht HAFENSCHENKE zu lesen stand.
Broll wusste, dass die Schenke auf jeden Fall beleuchtet und mit Leben hätte erfüllt sein müssen. Neben dem örtlichen Gasthaus war die Schenke einer der wenigen öffentlichen Versammlungsorte hier.
Jai blieb am Eingang stehen. Der Hippogryph blickte in den Nebel und suchte nach potenziellen Feinden. Die Hohepriesterin ging wortlos hinein, ihr Schweigen bereitete Broll auf das vor, was kommen würde.
Die Schenke wirkte nicht wie das andere Gebäude, welches trotz der bizarren Szenerie ordentlich und aufgeräumt gewesen war. Hier lagen Stühle über den Holzboden verstreut, und einige der Tische waren umgeworfen. Die Theke am Ende war fleckig, und das nicht allein durch die jahrelange Benutzung betrunkener Gäste. Es lagen auch mehrere zerschmetterte Flaschen und Fässer darauf.