Der Weltenbaum sammelte genug Tau, um mehrere Flüsse, Ströme und Seen unter seinen Ästen zu speisen. Eines der Gewässer war so groß, dass ein Teil von Darnassus in es hineinreichte. Die Nachtelfen leiteten das Wasser um, um die Pracht der Tempelgärten und des atemberaubenden Wasserweges zu erhalten. Weiter im Norden auf der anderen Seite des Wassers hatten die Druiden ihr eigenes Heiligtum erbaut, die von Baumland bedeckte Enklave des Cenarius.
Der Vogel drehte ab. Er mied nicht nur Darnassus, sondern auch die anderen unglaublichen Städte, die sich auf der Krone befanden. So einladend der Anblick auch war, lag das Ziel der Sturmkrähe doch weit darunter.
Der große Vogel sank hinab, bis er nur noch gut zehn Meter vom Boden entfernt war, um dann mit seinem angeborenen Talent die Flügel auszubreiten und den Sinkflug zu verlangsamen. Er streckte die Krallen aus, bereitete sich auf die Landung vor.
Kurz bevor die Sturmkrähe den Boden berührte, wuchs sie an. In nur einem Atemzug wurde sie größer als ein Mensch. Die Beine wurden dicker und länger, und die Krallen verwandelten sich in Füße mit Sandalen daran. Zur gleichen Zeit vereinten sich die Flügel, dehnten sich aus, und Finger wuchsen daraus hervor. Die Federn verschwanden, wurden von dichtem waldgrünem Haar ersetzt, das im Nacken zusammengebunden war und vorne einen dichten Bart bildete, der sich auch auf die nun bekleidete Brust erstreckte.
Der Schnabel war zu einem Gesicht mit markanter Nase und einem breiten Mund geworden, dazu eine stets gerunzelte Stirn. Die schwarzen Federn waren Haut von dunkelvioletter Tönung gewichen. Der Gestaltwandler gehörte eindeutig zu dem Volk, das in diesem Land und auch darüber wohnte.
Broll Bärenfell, der Nachtelf, sah wie die meisten anderen Druiden aus. Allerdings war er muskulöser gebaut und glich mehr einem Krieger als die anderen. Sein wenig friedvolles, bewegtes Leben hatte seine Gesichtszüge geprägt. Doch für die Druiden war er immer noch einer der ihren.
Er blickte sich um. Kein anderer Druide war zu sehen, obwohl er spürte, dass sie in der Nähe waren. Das passte ihm gut. Er wollte für einen Augenblick allein sein, bevor er sich zu den anderen gesellte.
Viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Die meisten betrafen seinen Shan’do, seinen Lehrer. Jedes Mal, wenn er nach Teldrassil zurückkehrte, dachte der breitschultrige Elf an ihn. Er wusste, dass er ohne ihn nicht der wäre, der er war. Obwohl Broll sich selbst nur für einen erbärmlichen Druiden hielt. Doch keiner der zu dieser außerplanmäßigen Versammlung erschienenen Druiden, nicht einmal Fandral, wäre hier, wenn es den legendären Malfurion Sturmgrimm nicht gegeben hätte.
Malfurion war nicht nur ihr Anführer gewesen, er war der oberste aller Druiden, ausgebildet vom Halbgott Cenarius persönlich. Der Waldgott hatte in dem damals noch jungen Nachtelfen etwas ganz Besonderes gesehen, eine einzigartige Verbindung zur Welt, und hatte ihn gefördert. Und noch bevor Malfurions mystische Ausbildung beendet worden war, wurde er in den ersten titanischen Kampf gegen Dämonen und Verräter aus den eigenen Reihen verwickelt... wozu sogar Azshara, die Königin der Nachtelfen, und ihr verräterischer Berater Xavius gehört hatten. Wäre Malfurion nicht gewesen, würde Azeroth wahrscheinlich nicht mehr existieren.
Die Geschichten seiner außergewöhnlichen Taten erstreckten sich über alle Zeitalter. Malfurion hatte die bemerkenswerten Jahrhunderte seines Lebens immer wieder für das Wohl seiner Welt und ihrer Bewohner geopfert. Wenn andere gefallen waren, hatte er ihre Schlachten fortgeführt und sie zu seinen gemacht. Aus dem Meister der Naturmagie war ein erfahrener Kriegsherr geworden.
Dennoch hatte Malfurion erst kürzlich, als ein bleibender Friede in greifbare Nähe gerückt war, seine Druiden umorganisiert und versucht, sie auf den ursprünglichen Weg zurückzuführen. Die Vergangenheit war eben die Vergangenheit; die Zukunft ein faszinierendes Rätsel, das man besonnen und in Ruhe erforschen sollte. Malfurion war sogar der Auffassung, dass die Nachtelfen ohne ihre Unsterblichkeit besser dran wären. Denn so waren sie gezwungen, Teil des pulsierenden Lebens auf Azeroth zu werden, statt, wie bislang, als unveränderliches Element nur die Zeiten vorbeiziehen zu sehen...
„Malfurion...“, murmelte er. Mit Ausnahme von zwei anderen Wesen hatte niemand Broll in seinem Leben dermaßen beeinflusst wie sein Shan’do. Er schuldete Malfurion viel... und dennoch konnte er den Erzdruiden genauso wenig wie alle anderen von seinem schrecklichen Schicksal erlösen.
Broll blinzelte und kam wieder zu sich. Er hatte gespürt, wie jemand hinter ihm aufgetaucht war. Noch bevor er sich umdrehte, wusste der Nachtelf, um wen es sich handelte. Schon der bloße Geruch verriet diesen speziellen Druiden.
„Der Segen des Waldes sei mit dir, Broll Bärenfell“, brummelte der Ankömmling. „Ich spürte deine Nähe. Ich hatte darauf gehofft, dich zu sehen.“
Obwohl er nicht erwartet hatte, den Neuankömmling zu treffen, war er doch froh darüber. „Hamuul Runentotem... Ihr hattet eine kurze Anreise von Donnerfels.“
Während Broll den meisten anderen Druiden ähnelte, nahm sein neuer Begleiter eine Sonderstellung ein. Zwar glich sein Körper ein wenig dem eines Nachtelfen oder Menschen, doch hatte er breitere Schultern als der ohnehin schon kräftig gebaute Broll. Dazu trug er die lockere, gegerbte Kleidung seines Stammes. Zwei lange rote Riemen hielten die lederne Schulterpanzerung an dem rot gebeizten Lederkilt. Gestreifte Bänder, rot, golden und blau, schmückten jeden Unterarm an den Gelenken.
Doch was Hamuul noch einzigartiger als Broll machte, war, dass er ein Tauren war. Dicke Hufe trugen den schweren Körper, und sein Kopf erinnerte an einen Bullen – wie es für einen Tauren charakteristisch war, auch wenn ihm das niemand jemals ins Gesicht gesagt hätte, wollte er nicht Leib und Leben riskieren. Er hatte eine große Schnauze, in der er einen Zeremonienring trug, und lange Hörner, die sich zuerst bogen, bevor sie nach oben stachen.
Hamuul war fast zweieinhalb Meter groß, und das, obwohl auch er den charakteristischen Buckel seiner Art hatte. Sein feines, graubraunes Fell tendierte mittlerweile eher zu grau. Als Broll den Tauren kennengelernt hatte, war das noch anders gewesen. Hamuul trug zwei dicke Zöpfe über der Brust, die ebenfalls ergrauten. Er war erst spät Druide geworden, und das auch nur, weil Malfurion Sturmgrimm ihn dazu ermutigt hatte. Der Tauren war der Erste seines Volkes gewesen, der seit zwanzig Generationen auf diesen Rang aufstieg, und obwohl es mittlerweile auch noch andere gab, war doch keiner so versiert wie er.
„Die Reise verlief ereignislos, eigentlich schon verdächtig ruhig“, bemerkte der Tauren. Seine ausdrucksvollen grünen Augen zogen sich unter den dichten Augenbrauen zusammen, als wollte er noch etwas hinzufügen, um sich dann aber doch anders zu entscheiden.
Der Nachtelf nickte, seine Gedanken wandten sich kurz der Frage zu, wie er selbst wohl von den anderen wahrgenommen wurde. So viel war von Broll erwartet worden, so viel seit seiner Geburt... und alles nur wegen eines einzigen Zeichens, das er mit Malfurion teilte. Ein einziges Zeichen, das für Broll auch ein ewiges Stigma, ein Makel, war.
Das Geweih auf seinem Kopf war über sechzig Zentimeter lang, und wenn es auch nicht so beeindruckend wirkte wie das des berühmten Erzdruiden, so fiel es doch auf. Es hatte Broll bereits als Kind gezeichnet, dabei war es damals noch nicht mehr als kleine Wülste an jeder Seite gewesen. Doch sie wurden als Zeichen einer zukünftigen Ehrung betrachtet. Schon als Kind war ihm prophezeit worden, dass er eines Tages – irgendwann – Stoff einer Legende werden würde.
Doch während andere das Geweih als Geschenk der Götter betrachteten, war Broll schnell klar geworden, dass es ein Fluch war. Und in seinen Augen hatte ihn das Leben darin bislang nur zu sehr bestätigt.
Wozu waren die Auswüchse letztendlich nütze gewesen, wenn er in den kritischsten Momenten seines Lebens Hilfe gebraucht hatte?