Aber war die Lebensbinderin wirklich seine Sklavin? Tyrande erinnerte sich, was sie gesehen hatte. Doch sie kannte auch die Falschheit des Albtraums. Die Vision war zu flüchtig gewesen. Warum versteckte er sie vor ihnen? Warum versteckte er Alexstrasza vor ihrem Blick?
Vielleicht war alles nur eine Illusion gewesen, um ihr und den anderen die Hoffnung zu rauben.
Die Hohepriesterm ballte die Faust. Sie war dem Albtraum nicht zum ersten Mal auf den Leim gegangen.
„Zuerst die Axt“, befahl Lethon.
Die Worte des korrumpierten Drachen erregten Tyrandes Aufmerksamkeit, und sie fragte sich, warum die Orcfrau die Waffe so lange behalten durfte. Sicherlich hätte Xavius sie Thura wegnehmen können, sobald die Gruppe vor dem Schatten gestanden hatte. Denn egal, was für ein Wesen der Albtraumlord jetzt auch sein mochte, so wollte er doch sicherlich nicht, dass einer seiner Feinde eine derart mächtige Waffe in seiner Nähe führte.
Wieder dachte Tyrande an die Vision von Alexstrasza. Alles war dazu gedacht, Verzweiflung in ihnen zu schüren. Vielleicht war das seine einzige Waffe?
Smariss starrte die Orckriegerin an. Thura umfasste die Axt entschlossen. Sie wollte sie dem Drachen offensichtlich nicht geben. Sie hielt dem Drachen die Axt entgegen, der, was Tyrande interessiert bemerkte, darauf achtete, dass er ihr nicht zu nahe kam.
Es muss sein!, entschied die Hohepriesterin.
„Dieses kleine Spielchen hilft dir auch nicht!“, zischte Smariss. Der Drache beobachtete Thura weiterhin, deren Hände zu zittern begannen.
„Die Axt gehört mir!“, knurrte die Kriegerin.
„Nicht mehr...“, unterbrach sie Lethon, der nun auch Thura anstarrte.
Die Orcfrau fiel auf die Knie. Ihre Hände zitterten heftig, doch sie ließ die Axt immer noch nicht los.
Die Hohepriesterin wusste, was sie Thura antaten. Sie griffen sie mit ihren Traumfähigkeiten an. Thura durchlebte immer wieder ihren persönlichen Albtraum. Und das alles, damit sie die Waffe losließ.
Die Waffe...
„Lucan... die Axt...“, drängte Tyrande leise.
Er blickte sie an, sah die Richtung ihres Blicks, und obwohl er ein wenig unsicher wirkte, bewegte er sich.
Tyrande lauschte in ihr Herz und betete zu Elune. Dabei erkundete sie, was sie ursprünglich dazu bewogen hatte, eine von Mutter Monds Akolytinnen zu werden. Sie erinnerte sich an die Sanftheit, die Schönheit des Mondes und wie sie erkannt hatte, dass sie damit vielleicht anderen helfen konnte.
Das silberne Leuchten erschien über ihr.
„Kleine Närrin!“, zischte Smariss. Lethon knurrte und wandte sich ebenfalls der Nachtelfe zu.
Lucan packte Thura. Die Orcfrau verstand sofort, was der Mensch vorhatte.
Mensch und Orc schwanden, als Lucan sie beide aus dem Albtraum nach Azeroth brachte. Aber kurz bevor das geschah, strich der Schatten eines Astes über sie. Niemand, nicht einmal die Hohepriesterin, bemerkte es.
Tyrande blieb. Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit den anderen zu fliehen. Sie hatte nur als Ablenkung für die anderen beiden gedient. Die Drachen waren zu selbstsicher gewesen, zu sehr darauf versessen, Thura die Axt zu entreißen. Das hatten sie ausgenutzt, damit die Orcfrau und Lucan in die Freiheit gelangen konnten.
Doch eine schreckliche Kraft traf sie. Tyrande stürzte in die Käfer hinein, die blitzschnell über sie krabbelten. Sie strich sie weg, als plötzlich Smariss’ eiterbedecktes Gesicht über ihr aufragte.
„Danke, dass du deinen Teil erledigt hast...“, lachte der monströse Drache.
Lethon gab sich dieser düsteren Erheiterung ebenfalls hin. Als Tyrande aufstand, erkannte sie, dass, obwohl ihre Gefährten tatsächlich geflohen waren, etwas zurückgeblieben war.
„Deine ganzen Bemühungen waren umsonst!“, spottete Lethon. „Dein Ablenkungsmanöver hat die Konzentration der Orcfrau gestört, und sie lockerte genau im richtigen Moment den Griff...“
Bedeckt von krabbelndem Ungeziefer lag die Axt, die einst Brox gehört hatte, nur wenige Meter von Tyrande entfernt.
Und darüber schwebte der Schatten eines skelettartigen Astes.
Niemand protestierte gegen Malfurions Entscheidung. Alle vertrauten ihm. Doch sie hatten kein Vertrauen in das, was vor ihnen lag und ohne ihr Wissen geschaffen worden war.
Das Portal stand an der Rückseite von Fandrals Haus. Es war weder groß noch sonderlich geschmückt, so wie die anderen Tore in den Smaragdgrünen Traum. Aber da die fantastischen Energien darin waberten, war es ganz offensichtlich funktionstüchtig... und für Malfurion ein Hoffnungsschimmer.
„Wie konnte er so etwas erschaffen, ohne dass wir davon etwas mitbekamen?“, fragte ein Druide.
„Ihr wart von so vielen anderen Dingen abgelenkt“, sagte Malfurion entschuldigend. Dabei dachte er daran, was seine Suche nach dem Smaragdgrünen Traum alles verursacht hatte. „Doch seid dankbar, denn das Portal ist immer noch offen...“
Broll beäugte es misstrauisch. „Aber wird es auch offen bleiben?“
„Ich werde dafür sorgen.“
Selbst Malfurion war erstaunt, als er die Stimme der Lebensbinderin hörte. Noch mehr überraschte ihn Alexstraszas Auftreten. Sie hatte ihre elfische Gestalt angenommen. Kleine Flämmchen sprühten aus ihren langen roten Locken. Sie bewegte sich gleichermaßen wie eine Königin und wie eine Mutter, was ihr Blicke des Vertrauens und Glaubens von den Druiden einbrachte. Obwohl Ysera ihre Herrin war, bezeugten Malfurion und die Druiden dem Aspekt ohne zu zögern ihren Respekt.
„Große Lebensbinderin, dies ist kein...“, begann Malfurion.
„Frag nicht.“ Die feurige Gestalt trat auf das Portal zu. „In genau diesem Augenblick spürt der Albtraum, dass das Portal entdeckt wurde.“
Zu Malfurions Überraschung blieb Alexstrasza erst kurz vor den wild wabernden Energien stehen. Die Lebensbinderin blickte in das Tor.
Das feurige Leuchten ihres Körpers wurde intensiver und schoss dann in das Portal hinein. Die Flamme leuchtete kurz darin auf, und ihnen allen war klar, dass, wenn jemand auf der anderen Seite gestanden hatte, er zu Asche verbrannt worden war.
„Nichts wird von der anderen Seite durchkommen, und nichts wird dieses letzte Portal verschließen können“, erklärte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Das Portal wird offen bleiben, Malfurion Sturmgrimm... Darum werde ich mich kümmern. Es ist zu wichtig.“
Der Erzdruide nickte grimmig. „Dann haben wir keinen Grund mehr zum Zögern! Hamuul! Ihr helft mir, und Ihr auch, Broll. Ihr anderen wisst, was Ihr zu tun habt...“
Die Druiden begannen, sich den ihnen zugeteilten Aufgaben zu widmen. Viele versammelten sich in der Nähe des Portals. Andere nahmen die Gestalt von schnellen Tieren an und verschwanden in der Enklave.
Malfurion setzte sich in die Mitte des Druidenhains. Hamuul und Broll knieten neben ihm. Malfurion schloss die Augen, doch bevor er die Meditation begann, sagte er zu den beiden: „Ich brauche all Eure Kraft und Eure Vorsicht. Ich entschuldige mich für die Gefahr, in die ich Euch gebracht habe.“
Der Tauren schnaubte, und Broll knurrte: „Ich habe jahrelang als Gladiator gekämpft. Doch lieber kämpfe ich Seite an Seite mit Euch!“
Malfurion war ihnen dankbar für ihre Loyalität und Opferbereitschaft und zog sich in sich selbst zurück. Er musste mit ein paar anderen Verbündeten Kontakt aufnehmen, die vielleicht mit ihnen kämpfen würden – wenn es sie denn noch gab. Er würde von jedem Einzelnen ein weiteres großes Opfer verlangen, und vielleicht brachte er dadurch den Albtraum seinem Sieg sogar ein bisschen näher.
Doch sie hatten keine andere Wahl mehr.
Es war nicht schwer für Malfurion, den benötigten Zustand zu erreichen, trotz des Drucks, der auf ihm lastete. Der Erzdruide spürte, wie sich die Bindung zwischen seiner Traumgestalt und seinem physischen Körper löste. Es war ein wenig schwierig, die sterbliche Hülle hinter sich zu lassen und zwischen Broll und Hamuul aufzusteigen.