Obwohl sie ihn nicht sehen konnten, blickten die beiden instinktiv hoch. Malfurion nahm mit seinen Gedanken Kontakt zu ihnen auf, informierte sie darüber, was er vorhatte und welche Hilfestellung sie ihm geben konnten.
Dann versuchte Malfurion etwas, das er noch nie getan hatte. Es war seine letzte Hoffnung, um all die zu erreichen, die Azeroth noch helfen konnten. Der Erzdruide nutzte Teldrassil, um nach Azeroth hinein Kontakt aufnehmen zu können. Dabei machte er sich die Tatsache zu eigen, dass egal, wo man sich aufhielt, doch alles Teil ein- und derselben Welt war.
Und Teldrassil und Azeroth gaben ihm, was er wollte.
Malfurion keuchte schwer, als er plötzlich alles überall zugleich auf der Welt sah. Es war fast schon zu viel. Jemand anderes als Malfurion wäre verrückt geworden, weil sich sein Geist in Millionen Teile und mehr zerlegt hätte. Es gab Dinge, von denen er nie gewusst hatte, dass sie existierten. Und dann wieder andere Dinge am Rande, die ihn mit schrecklichem uraltem Bösen erfüllten, das tief in der Welt eingeschlossen war. Doch irgendwie kam es ihm auch vertraut vor.
Das alles trat allerdings in den Hintergrund, als Tausende andere Dinge seine Aufmerksamkeit erforderten. Es gab so viel zu tun und Malfurion musste aufpassen, dass er darüber nicht wahnsinnig wurde.
Wieder waren es der Weltenbaum und Azeroth, aus denen er seine Kraft bezog. Die Gefahr, für immer verloren zu gehen, schwand. Malfurion blickte auf eine belagerte Welt und fand diejenigen, nach denen er suchte.
Es waren nicht annähernd so viele, wie er gehofft hatte. Doch darunter entdeckte er alle, die von essenzieller Bedeutung für seinen Plan sein konnten.
Varian beobachtete seine angeschlagene Truppe. Er wusste, dass einige Soldaten immer noch hier und dort über die Hauptstadt verstreut waren und vielleicht auch woanders. Doch ihre Zahl schwand schnell. Das war keine Überraschung, weil Waffen nutzlos waren. Meistens mussten er und seine Männer fliehen, ein schmachvoller Weg, doch leider nötig.
Feuer schien die schreckliche Horde zu verlangsamen – zumindest ein wenig. Die neueste Welle des Schreckens – die Schlafwandler – war ein viel größerer Schock für den eigenen Geist. Gleichzeitig waren sie aber auch ein Feind, den man physisch bekämpfen konnte. Das einzige Problem war, dass Varians Streiter keine Unschuldigen verletzen wollten. Selbst dann nicht, wenn diese Unschuldigen sie wild angriffen.
Die Verzweiflung hatte immer mehr von Varians weniger werdenden Kämpfern dazu gezwungen, ihre Waffen dennoch mit Blut zu besudeln, und auch er selbst musste einige harte Schläge austeilen.
Varian... König von Sturmwind...
Am ruhigen und tröstenden Tonfall der Stimme erkannte Varian, dass er nicht dem Albtraum zum Opfer gefallen war. Der Albtraum bot keine Sicherheit. Er schien seine Opfer direkt in ihre Ängste zu zerren.
Varian... Freund von Broll Bärenfell... Ich bin Malfurion Sturmgrimm...
Er straffte sich augenblicklich. Obwohl Varian den berühmten Erzdruiden nie kennengelernt hatte, wie so viele andere Anführer der Allianz und der Horde, wusste er doch, dass Malfurion die Druiden anführte. Deren Taten hatten entscheidenden Anteil am Sieg in der Schlacht am Berg Hyjal gehabt. Varian war zu dieser Zeit nicht in Kalimdor gewesen, aber er hatte sich die Geschichte ausführlich erzählen lassen.
Dass die Stimme des Erzdruiden nun im Kopf des Königs erklang, war wenig überraschend. Doch so willkommen Malfurions Lebenszeichen auch war, konnte Varian ihm nicht viel Zeit opfern. Die Lage wurde mittlerweile noch verzweifelter.
„Was immer du willst, sage es lieber schnell!“, murmelte der Herr von Sturmwind leise, damit sich seine Soldaten nicht wunderten, dass er mit Schatten sprach.
Varian, Ihr müsst die Kämpfer anführen, die den Albtraum dort angreifen, wo er am verwundbarsten ist... im Smaragdgrünen Traum...
„Ich werde Sturmwind nicht im Stich lassen!“ Ohne dass er es merkte, hob Varian die Stimme an. Einige seiner Soldaten blickten ihn an. Dann wandten sie sich wieder der wilden Schlacht zu.
Jeder muss das verlassen, was er liebt, wenn er es retten will...
Varian fletschte die Zähne. „Sei verdammt... doch wie sollten wir hier wegkommen, und wo könnten wir hin, wenn wir es denn schaffen sollten?“
Ihr müsst nicht selber fortgehen... Ihr müsst nur einfach meinen Anweisungen folgen...
Eine brüllende Gestalt stürzte sich auf den König. Es war einer seiner persönlichen Diener. Die Augen des Mannes waren geschlossen, sein Gesicht war grässlich verzerrt, und er schrie. Es sah aus, als wäre sein Kiefer ausgehängt worden. Warum er schrie, interessierte Varian nicht. Die Schlafwandler litten alle unter ihren eigenen Albträumen, in denen sie sich gegen ihre Folterer wehrten – die stets die Gegner des Albtraums waren.
Varian versuchte, dem Mann mit der flachen Seite seiner Klinge vor die Schläfe zu schlagen. Manche Schlafwandler konnte man auf diese Weise ausschalten, obwohl man generell mehr als einen Schlag brauchte.
Doch der Diener änderte plötzlich seine Position. Statt ihn mit der flachen Seite zu treffen, erwischte ihn Varians Klinge mit der scharfen Kante.
Blut strömte aus der Wunde. Der getroffene Schlafwandler fiel auf den König. Einer der Soldaten zog augenblicklich den sterbenden Mann von Varian herunter.
Doch der Herr von Sturmwind bemerkte es nicht. Er wusste nur, dass er gerade einen seiner eigenen Untergebenen erschlagen hatte. Ein weiterer Albtraum kam zu denen hinzu, unter denen er bereits litt.
„Was auch immer du tun willst, tu es gleich!“, knurrte er zu dem unsichtbaren Malfurion. „Und tu es schnell!“
Der Erzdruide sagte ihm, was er von ihm wollte. Varian blickte sich skeptisch um, dann folgte er Malfurions Vorschlägen.
„Legt eure Waffen nieder!“, rief er den anderen zu. „Blast das Signal zum Wegtreten!“
Ich werde etwas Kraft einsetzen müssen..., fügte Malfurion hinzu. Ich fange mit Euch an, damit Ihr dann den Rest berühren könnt...
„Ich hoffe, du weißt, was du tust! Wir nehmen einen Trank, um uns...“
Das macht nichts. Mein Werk setzt alle anderen Zauber außer Kraft...
Der König grunzte. Als seine verblüfften Untergebenen ihn anblickten, schloss Varian widerstrebend die Augen.
Und schlief augenblicklich ein.
Hoch über dem nördlichen Mulgore – auf den hohen Klippen nahe dem Steinkrallengebirge – lag die Hauptstadt der Tauren. Bevor Donnerfels gebaut worden war, hatten die meisten Tauren ein nomadisches Leben geführt. Erst in jüngerer Zeit, nach der Vertreibung der Zentauren-Marodeure, hatte Hamuuls Volk schließlich eine Siedlung gegründet, die es mit Orgrimmar, Sturmwind und den anderen Hauptstädten auf Azeroth aufnehmen konnte.
Vier Tafelberge bildeten Donnerfels, wobei der größte und am dichtesten besiedelte in der Mitte lag. Die großen Totems der Tauren standen hoch über den Gebäuden, die noch sehr stark an ihre Vergangenheit als Nomaden erinnerten. Selbst die größten Häuser waren lange hölzerne Bauten, wie sie viele Stämme früher als Winterlager genutzt hatten. Die darum herumstehenden kleineren Domizile wirkten wie die spitz zulaufenden Hütten aus Holz- und Tierhäuten, die seit vielen Generationen die Alltagszelte der Nomaden ausgemacht hatten.
Die Tauren hatten die Lage von Donnerfels aus strategischen Gründen gewählt. Die Tafelberge gaben ihnen gute Verteidigungsmöglichkeiten gegen die meisten Feinde. Doch sogar die Klippen waren kein Schutz gegen einen Feind, der zum größten Teil in ihnen selbst steckte...
Das wusste Baine Bluthuf, der Sohn des großen Taurenhäuptlings Cairne, nur zu gut. Mit der Axt in der einen Hand, dem Speer in der anderen, stand er an vorderster Front einer Gruppe von Kriegern, die die Brücke zum mittleren Tafelberg blockierten. Hier lag der Händlerbereich, der bis vor Kurzem voll von geschäftigem Treiben gewesen war. Der mittlere Tafelberg war alles, was ihnen nach der Verteidigung im nördlichen und östlichen Teil von Donnerfels geblieben war. Den Rest hatten die Schrecken übernommen, obwohl es noch ein paar kleine Widerstandsnester gab.