Der Anführer der Tauren stieß mit dem Speer auf eine Gestalt ein, die nur ein paar Meter von ihm entfernt stand. Es war ein ehemaliger Kamerad namens Gam. Gemeinsam hatten sie gegen die Zentauren gekämpft, und die Zöpfe an Baines Kopf und Bart zeugten von den Gegnern, die er während dieses Feldzugs getötet hatte.
Jetzt versuchte Gam Cairnes Sohn zu töten, als wäre er ein Zentaur. Dabei hielt er die Augen geschlossen, und er murmelte irgendetwas über die vierbeinigen Marodeure. Am Ende hatte Baine keine andere Wahl. Sein dunkelbraunes Fell und die schwarze Mähne waren trotz des schützenden Leders auf Schultern, Rücken und Armen mit Blut bespritzt. Baine trieb den Speer in Gams Brust.
Grunzend ließ der schlafwandelnde Tauren die Waffe fallen, dann stürzte er von der Hängebrücke. Sein Körper prallte auf die Ebene darunter. Glücklicherweise verschwand er in dem verdammten Nebel und ersparte es Baine, zusehen zu müssen, wie der Körper seines Freundes zerschmetterte.
Der Aufzug war nicht fern, aber dort konnte man nicht hinunter. Die Kundschafter, die Baine ausgeschickt hatte, waren nicht mehr zurückgekommen, obwohl sie schon lange überfällig waren. Das bedeutete wahrscheinlich, dass sie gefallen und nun selbst Teil der Gefahr waren.
Die Brücke wackelte, als weitere Schlafwandler vorwärtsdrängten.
„Was sollen wir tun?“, fragte einer der Krieger. Tauren waren von Natur aus stoisch, doch dieser Kampf trieb ihnen die Sorge ins Gesicht... und ihre geweiteten Augen waren blutunterlaufen vom Schlafmangel.
Könntest du mir nur helfen, Vater, dachte Baine. Doch Cairne war unter den ersten Opfern gewesen, und Baine vermutete, dass das aus einem bestimmten Grund geschehen war. Die meisten Tauren konnten sich ein Leben ohne ihren ehrwürdigen Häuptling nicht vorstellen, besonders Baine nicht.
Schnaubend kam Cairnes Sohn zu einer Entscheidung. Sie würde ihnen nur eine kleine Galgenfrist erkaufen. Aber sie hatten keine andere Wahl. Er sprach ein Gebet für die Unschuldigen, die er in den Tod schicken würde.
„Schneidet die Seile durch!“, befahl Baine.
„Die Seile?“ Der andere Tauren blickte betroffen.
„Schneidet sie durch!“, wiederholte Baine, hob seine Axt und hieb selbst auf das nächste Seil ein.
In diesem Moment erklang in seinem Kopf eine Stimme.
Baine Bluthuf... ich hin der Erzdruide Malfurion Sturmgrimm, ein Freund von Hamuul Runentotem... ich biete Euch eine Chance auf Hoffnung... für uns...
Baine dankte den Ahnen, und ohne sich darum zu scheren, was die anderen denken mochten, antwortete er: „Sag es mir... aber beeile dich...“
Eine Frage, die Malfurion lange beschäftigt hatte, wurde beantwortet, als er in die ferneren Regionen Azeroths blickte. Die Frage, was derzeit in Dalaran geschah. Sein erster Blick auf das Reich der Magier erschreckte ihn. Weil das ganze Königreich von Dalaran nicht dort war, wo es hätte sein sollen. Stattdessen schwebte es am Himmel.
Nachtelfen schätzten Magier und andere arkane Spruchwirker nicht sonderlich. Malfurion aber, der die Zauberer besser als viele Mitglieder seines eigenen Volkes kannte, hatte mit ihnen in der Vergangenheit schon gut zusammengearbeitet. Doch als der Erzdruide ermutigt von dieser Demonstration ihrer unglaublichen Fähigkeiten versuchte, einige Magier zu erreichen – vor allem Rhonin, den er schon über zehntausend Jahre lang kannte -, entdeckte er, dass selbst Dalaran dem Albtraum anheimgefallen war.
Eigentlich war ihm Dalaran ganz, besonders anheimgefallen. Malfurions erste Blicke auf die großen, magisch beleuchteten Straßen der fliegenden Stadt zeigten nichts als in Nebel gehüllte Verlassenheit. Als er die verschiedenen merkwürdig geformten Gebäude betrat, traf er gleich auf die ersten Schläfer. Sie lagen in großer Zahl einfach herum, einige in ihren Betten, andere, wo die Erschöpfung sie hatte umfallen lassen.
Und in einem dieser Betten fand er nicht nur Rhonin, sondern auch die Gefährtin des Magiers, die Hochelfe Vereesa. Obwohl Malfurion sie nie selbst getroffen hatte, kannte er sie doch aus Rhonins Erzählungen. Sie waren beide im Schlaf gefangen. Ihre Gesichter zeigten, dass auch sie den Schrecken des Albtraums durchlitten.
Es gab keine Schlafwandler, obwohl Malfurion spürte, dass viele der Opfer kurz davor standen, welche zu werden. Doch ein Zauber hielt sie fest... und dessen Ursprung fand er schließlich in der Violetten Zitadelle.
Das mächtige Gebäude erhob sich über alle anderen. Es war wie ein hoher Turm gebaut, mit konischen Erweiterungen, die die niedrigeren Seiten flankierten. Hoch über der Stadt gelegen, war die Spitze von einem kreisförmigen Feld umgeben, das von mächtigen Zaubersprüchen getragen wurde.
Malfurion ignorierte die Zauber und die zahllosen violett gedeckten Türme. Stattdessen nahm er Kontakt zu den Magiern darin auf. Dabei fiel sein Augenmerk sofort auf eine ältere Magierin namens Modera. Vor seinem Auge entstand das Bild einer energischen Frau mit kurzem grauem Haar und einem steten leichten Stirnrunzeln. Sie trug nicht die blauviolette Robe des Regierungsrates, der Kirin Tor, stattdessen hatte sie eine blaugraue Rüstung an.
Der Erzdruide..., antwortete sie erschöpft. Also ist noch nicht ganz Azeroth gefallen...
Er war beeindruckt, dass sie ihn so schnell erkannt hatte. Doch schon der nächste Satz dämpfte seine Euphorie, denn die Magier in der Kammer waren von der Außenwelt völlig abgeschnitten.
Wir können gerade mal dafür sorgen, dass unsere schlafenden Brüder sich nicht gegen uns erheben... und selbst das haben wir erst im letzten Moment geschafft... wir haben mehrere Mitglieder unserer Gruppe verloren, als die ersten Schlafwandler auftauchten...
Sie hatte seine Fragen beantwortet, bevor er sie stellte. Die Magier hier in Dalaran konnten ihm nicht helfen. Sie bemühten sich nach Kräften zu verhindern, dass sich einige der größten Magier der Armee des Albtraums anschlossen.
Malfurion brachte Modera auf denselben Wissensstand wie Varian. Sie nickte, obwohl sie nicht sonderlich viel Vertrauen in ihn zu haben schien. Hast du mit den anderen Magiern außerhalb von Dalaran schon gesprochen?
Das habe ich.
Modera war genauso erschöpft wie die Handvoll anderer Zauberer, die entweder bei ihr waren oder sich in anderen Teilen der Zitadelle aufhielten. Mögen sie hilfreich für dich sein... und möge das Glück dir hold sein... ich fürchte, dein Plan ist unsere letzte Chance...
Malfurion brach den Kontakt zu ihr ab. Er hoffte, dass er sich nicht selbst verraten hatte. Modera hätte ihn für überheblich halten können, wenn sie geahnt hätte, was er wirklich mit ihren Magiern und all den anderen, die er um sich versammelte, vorhatte...
Und so wie Malfurion mit Varian, Baine und Modera redete, redete er auch mit vielen anderen. Er sprach mit dem Orcschamanen Zor Einbaum in Orgrimmar, mit König Magnis’ Berater in Eisenschmiede, mit dem Trollkundschafter Rokhan – der gezwungen war, eine Gruppe seines Volkes aus der Hauptstadt in Sicherheit zu bringen – und vielen, vielen anderen. Wie die Trolle, waren einige Völker Malfurion gegenüber feindlich gesinnt. Doch er versuchte, sie dennoch zu überzeugen. Bei einigen hatte er Erfolg, bei anderen nicht.
Er konnte denjenigen, die seine Hilfe nicht wollten, keinen Vorwurf machen. Denn schließlich verlangte er von ihnen ja, dass sie sich dem Albtraum schutzlos auslieferten.
Doch auch unter denen, die sich ihm anschlossen, spürte Malfurion Vorsicht und Sorge... bis sie etwas entdeckten, das sie für Geister hielten. Aber in Wahrheit waren es nur ihre Traumgestalten, die an einem Ort materialisierten, den sich die meisten nicht vorstellen konnten.