Malfurion erschauderte bei solchen Gedanken. Denn er wusste, dass sie im Schatten des Baumes stand, der seine persönliche Nemesis war... und dass selbst die Gaben von Mutter Mond alleine nicht ausgereicht hatten, um den momentanen Kontakt mit ihm herstellen zu können.
Der Albtraumlord lud ihn zu sich ein.
Der Erzdruide befahl sich selbst zurück in seinen Körper. Er spürte Brolls und Hamuuls große Erleichterung bei seiner Rückkehr.
Er spürte auch noch jemand anderen in ihrer Nähe... jemanden, der dort nicht hätte sein sollen.
Malfurion sprang auf, sobald er wieder Kontrolle über seinen Körper hatte. Broll und der Tauren zuckten überrascht zurück.
„Geht es Euch gut, Shan’do? Ist etwas geschehen?“
Doch Malfurion antwortete ihnen nicht. Stattdessen straffte er sich, um sich der unerwarteten Gefahr zu stellen, die ihnen allen drohte.
Die Gestalt warf einen Schatten über die drei Druiden. Sie lächelte nicht, sondern nickte Malfurion nur grimmig zu. In einer Hand trug sie einen langen Speer, der aus einem einzelnen Ast gefertigt war. In der anderen...
Seine andere Hand und der daran befindliche Arm bildeten eine verdorrte, vertrocknete Masse, die einem verrotteten Baum glich.
Vor ihnen stand Remulos auf seinen vier Hufen, der Waldland-Halbgott, der Sohn des Cenarius. Einst hatte das Gefühl des Frühlings sein innerstes Wesen durchdrungen. Doch nun schien der Wächter des Waldes einen Mantel aus kaltem Winter zu tragen. Seine Haut war grauer und die Blätter in seinem Haar braun und trocken.
„Ich bin froh, dich hier zu finden, Malfurion.“ Remulos zeigte ihm seine verstümmelte Extremität, dann knurrte er: „Ich war im Herzen des Albtraums. Wenn du stark genug an Körper und Seele bist, dann müssen wir beide augenblicklich dorthin zurück – oder alles ist verloren...“
25
Eine Entscheidung fällt
Sie waren wieder auf Azeroth, obwohl Lucan diesen Teil der Welt nicht kannte. Das einzig Vertraute hier war etwas, das inzwischen überall die Welt zu durchdringen schien... der scheußliche Nebel des Albtraums.
Eine kräftige Hand packte ihn am Kragen. Thura beugte sich ganz nah zu ihm. Der heiße Atem der wütenden Orcfrau stank. „Die Axt! Was hast du mit der Axt gemacht?“
„Ich weiß nicht, wovon du redest!“
Thura zeigte ihm ihre andere Hand, die nun eine bedrohliche Faust bildete. „Die Axt von Broxigar! Ich hatte sie in der Hand... und jetzt ist sie weg!“
„Hast du sie losgelassen?“ Der Gesichtsausdruck der Orckriegerin ließ ihn die Möglichkeit schnell verwerfen. „Sie hätte bei dir bleiben sollen! Das habe ich vorher schon mal gemacht!“
Die Kriegerin ließ ihn los und blickte ihn wütend an. „Wo ist sie dann, Mensch?“
Lucan wusste es genauso wenig, wie er diesen Ort hier kannte. Die hügelige Landschaft war voller tückischer Schluchten und wirkte trostlos. Es gab nur ein wenig Gestrüpp, und auf einem Hügel stand ein großer hässlicher Baum...
Der Kartograf schluckte. Der Baum passte nicht zu dem kargen Bild um ihn herum. Er war das Einzige, was hier zu gedeihen schien. Dennoch trug er keine Blätter.
Aber das war es nicht, was Lucan so sehr an dem Baum störte. Es war der Umriss, den er selbst im Dunst hatte.
Wie eine riesige Skeletthand.
Nun verstand er, warum und wie die Axt zurückgeblieben war. Jemand wollte, dass sie da blieb, jemand, der die Macht dazu hatte.
„Wir müssen hier weg!“, rief er.
„Ich werde mir die Axt zurückholen!“, erklärte Thura, die nicht ahnte, was Lucan entdeckt hatte.
Ein knisterndes Geräusch um sie herum unterbrach sie.
Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu bewegen, als würde sich etwas Großes nach oben durchgraben. Gleichzeitig bildeten sich im Nebel Schatten, die halb wie Nachtelfen und halb wie Ziegen aussahen.
Eine Wurzel schoss aus einem der Risse und suchte Lucans Knöchel. Thura zerrte daran und brach ein großes Stück der Spitze ab. Aus den abgebrochenen Enden tropfte eine Flüssigkeit, die wie Blut aussah.
Die Wurzel zog sich zurück, doch andere schossen hervor. Die Orckriegerin schlug mit der Wurzel nach den herannahenden Schattensatyren.
Einer stürzte vor. Thura stieß die Spitze in die düstere Gestalt hinein.
Der Schatten zischte, dann verging er.
Doch es kamen immer mehr. Thura blickte zu Lucan. „Es sind zu viele! Wenn ich die Axt hätte...“
Sie hörte auf, als sie den Gesichtsausdruck des Menschen sah. Lucan starrte auf einen der Risse, der von den Wurzeln geschaffen worden war. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst – wenn das überhaupt möglich war.
Die Orckriegerin packte seinen Arm, was die Faszination zu brechen schien, die von dem Spalt ausging. Lucan zerrte an Thura.
„Ich kann nicht vorhersagen, wo im Albtraum wir landen werden!“
Thura stieß nach einem weiteren Schatten und sah zu, wie er schwand. „Bring uns einfach hier weg!“
Sie verschwanden... und tauchten in einer nur allzu vertrauten smaragdgrünen Umgebung wieder auf.
Aber sie waren nicht allein.
„Ihr schon wieder?“, brüllte Eranikus. Seine Wut ließ die Umgebung, eine Höhle, erbeben. Der grüne Drache breitete seine Flügel aus und zerschmetterte mehrere Stalaktiten. „Ich will mit diesem Wahnsinn nichts zu tun haben! Das hatte ich euch doch gesagt!“
„Wir konnten nicht anders!“, antwortete Lucan. „Wir mussten fliehen – und ich wollte an einen sicheren Ort!“
„In meiner Nähe seid ihr wohl kaum sicher, du Wurm!“ Eranikus senkte den Kopf zu den beiden herab. „Und das gilt auch für dich, Orc, selbst wenn du diese magische Waffe besitzt...“
„Ich habe die Axt nicht mehr“, knurrte Thura und zeigte ihm ihre leeren Hände. „Offensichtlich haben wir sie verloren, als sich die Hohepriesterin tapfer selbst opferte, um uns die Flucht vor den korrumpierten Drachen zu ermöglichen!“
„Korrumpierte Drachen? Meinst du Lethon und Smariss? Die Nachtelfe ist bei diesem abscheulichen Paar zurückgeblieben... und die Axt haben sie jetzt auch noch?“
„Es ging nicht anders...“, begann Lucan, doch Yseras Gefährte hörte ihm schon nicht mehr zu.
„Es wird nicht enden... bis... Doch ich kann nicht...“ Der grüne Drache zischte, während er mit sich selbst sprach. „Ich kann nicht schlafen... Ich kann es nicht vergessen... sie war verschollen...“
Der verstörte Drachen heulte laut auf. Thura und Lucan suchten Deckung, als Eranikus in Selbstmitleid ausbrach.
Als das letzte Echo seines Schreis verklungen war, wandte der Drache seine Aufmerksamkeit wieder den beiden zu. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
„Scheinbar gibt es nur einen Weg, euch wieder loszuwerden...“
Eranikus griff nach ihnen.
„Euer Arm...“ antwortete Malfurion leise. „Was ist mit Eurem Arm passiert?“
Remulos starrte darauf. Sein Blick war besorgt. „Das ist die geringste meiner Verletzungen, das kannst du mir glauben.“
„Er erschien aus dem Nichts, kurz bevor Ihr erwacht seid“, erklärte Broll. „Wir haben fast unsere Konzentration verloren, so überrascht waren wir.“
„Und es spricht für deine Ausbildung, dass es nicht geschah.“ Der Sohn des Cenarius wies mit seinem Speer auf Malfurion. „Aber wir haben keine Zeit, um länger darüber zu reden, werter Thero’Shan, Lieblingsschüler meines Vaters! Wir haben nur eine Chance, um die Dinge doch noch zum Guten zu wenden, aber wir müssen sofort los!“
Malfurion blickte die anderen an. „Ich kann hier jetzt nicht weg...“
„Erzdruide, du weißt, dass der Albtraum deine Tyrande hat...“
„Das weiß ich nur zu gut...“
„Und kennst du den wahren Namen des Albtraumlords?“ Remulos betonte den Titel mit all der Abscheu, die Malfurion tief in seiner Seele versteckt hielt. „Es ist eine diabolische Kreatur, die einst Xavius hieß! Derselbe Xavius – wie du mir später verraten hast -, der eurer Königin Azshara dabei half, die Brennende Legion nach Azeroth zu holen und so meiner Familie viel Leid zufügte...“