Selbst nach all den Jahrtausenden konnte sich Malfurion noch gut an Cenarius’ Beinahetod im Kampf gegen den Dämon Archimonde erinnern, und wie dieser Kampf Malorne das Leben gekostet hatte – den weißen Hirsch. Malorne war Cenarius’ Vater gewesen und letztlich der Großvater von Remulos.
„Xavius hat Tyrande... und er hat auch die Axt, die mein Vater für den tapferen Orc Broxigar anfertigte...“
Die Nachricht traf Malfurion härter als selbst Broll oder Hamuul. Er wusste, was er zu tun hatte, auch wenn dadurch alles in Gefahr geriet.
Der Erzdruide wandte sich an Broll und sagte: „Broll, ich muss Euch darum bitten, die Druiden zu führen, während ich fort bin. Hamuul, Ihr müsst ihm helfen. Kann ich mich auf Euch beide verlassen?“ Als beide sich verneigten, fragte Malfurion Remulos: „Sind Tyrande und die Axt am selben Ort? Seid Ihr Euch da sicher?“
„Das bin ich. Sie befinden sich tief im Albtraum.“
„Dann müssen wir ihn durch Fandrals Portal betreten.“
Der Halbgott schüttelte den geweihtragenden Kopf. „Nein. Ich kenne einen anderen Weg.“
Malfurion runzelte die Stirn. „Welchen denn?“
„So bin ich auch hierher gekommen.“ Remulos malte einen großen Kreis mit der Speerspitze. Als er fertig war, begann der Kreis zu leuchten, die Ränder waren von einem alles verzehrenden dunklen Grün.
Der Waldlord murmelte etwas, das Malfurion nicht verstehen konnte. Der Kreis wuchs an, bis beide nebeneinander eintreten konnten.
„Komm!“, rief Remulos.
Der besorgte Broll griff nach Malfurion. „Shan’do...“
„Alles wird gut!“ Der Erzdruide wies auf Fandrals Portal. „Tut, was getan werden muss.“
Nachdem er das gesagt hatte, ging er mit Remulos durch das Tor.
Eisige Kälte umfing ihn, als sie den Albtraum betraten. Malfurion spürte, dass sie dem Ort, wo der düstere Schatten seine Traumgestalt eingesperrt und verändert hatte, sehr nah waren. Der Gedanke daran, was Xavius Tyrande antun konnte, machte ihn wütend. Doch er hielt diesen Gefühlsausbruch vor seinem Begleiter verborgen.
„Vorsicht...“, flüsterte Remulos. „Einer der Drachen ist in der Nähe... ich glaube, es ist Smariss...“
Malfurion vertraute darauf, dass der Halbgott die Gefahr richtig identifiziert hatte. Doch dann spürte der Nachtelf selbst etwas. Außer dem Drachen war noch jemand anderes in der Nähe. Sein Herz pochte wild, als er erkannte, wer es war.
Tyrande...
Aber Remulos ging in eine andere Richtung. „Die Axt von Broxigar liegt hier drüben. Wir müssen uns beeilen! Wenn der Albtraum sich ihre Macht aneignen kann, wird er noch gefährlicher. Doch wenn wir sie in die Finger bekommen, können wir vielleicht Ysera befreien. Sonst könnte es passieren, dass sie den Albtraum nicht länger daran hindern kann, ihre Macht zu nutzen...“
Malfurion runzelte die Stirn. „Konntet Ihr sie nicht selbst aufnehmen?“
„Sieh dir meine Hand an. Das ist beim letzten Versuch passiert. Es müssen schon wir beide sein, die es gleichzeitig mit dem Drachen aufnehmen und die Axt ergreifen... und letztlich auch Tyrande retten, mein Freund...“
Der Erzdruide nickte feierlich und überließ dem Halbgott die Führung. Malfurion beobachtete die Umgebung – oder was davon übrig war.
„Es ist sehr still... warum?“
„Der Albtraumlord ist wahrscheinlich jetzt mehr mit deiner tapferen Armee beschäftigt“, antwortete Remulos, ohne zurückzublicken. „Und da Smariss sowohl die Waffe als auch die Hohepriesterin bewacht, muss er sich doch keine Sorgen machen.“
„Wenn dem Albtraum die Axt so wichtig ist, dann sollte doch etwas mehr als ein einziger Drache auf Tyrande und die Waffe aufpassen“, meinte Malfurion. „Ich ließe sie jedenfalls nicht so leicht bewacht zurück... besonders nicht sie...“
„Dein Vertrauen in deine Geliebte ist lobenswert, aber unterschätze nicht die Macht des korrumpierten Drachen! Außerdem arbeitet der Albtraum an vielen Aufgaben parallel, und seine Diener müssen sich auch darum kümmern...“
Der Erzdruide antwortete nicht, denn in diesem Moment hörten sie ein schweres Keuchen. Malfurions Herzschlag begann sich dem düsteren Atmen anzupassen, das, wie er wusste, von Smariss stammen musste.
„Halte dich bereit!“, murmelte Remulos. „Gemeinsam sollten wir sie zumindest abwehren können...“
Der düstere Umriss der großen geflügelten Gestalt begann vor ihnen förmlich ineinander zu fließen. Smariss schien auf etwas zwischen ihren vorderen Klauen konzentriert zu sein, wahrscheinlich war es die sagenhafte Axt.
Malfurion wählte diesen Moment, um sich umzusehen, doch fast augenblicklich erforderte Remulos seine Aufmerksamkeit. „Da, andere Seite! Nicht weit weg von dem Drachen! Die Hohepriesterin!“
Der schattenhafte Umriss weiter vorn wirkte wie eine Nachtelfe, die wie Tyrande gekleidet war. Malfurion fletschte die Zähne. Tyrande hing mehrere Meter über dem Boden, als hätte man sie an einem unsichtbaren Pfahl aufgehängt oder vielleicht an einem Baum. Arme und Beine waren fest auf dem Rücken verschnürt. Zu allem Unglück drängten sich unter ihr noch mehr als ein Dutzend Satyre, die mit ihren Klauen nach ihr schlugen. Dabei verpassten sie sie stets nur knapp.
„Bekämpfe Smariss, und die Brut wird fliehen“, versicherte ihm der Halbgott. „Halte dich bereit.“
Remulos hob den Speer. Die Spitze leuchtete grün.
Ein ähnliches Leuchten entstand um den Drachen herum. In dessen Licht sah Smariss’ verweste Gestalt noch schrecklicher aus.
Als sein Gefährte zuschlug, vollführte Malfurion eine Geste zum Boden hin. Der Smaragdgrüne Traum selbst war korrumpiert worden, doch, anders als bei dem Drachen, steckte immer noch etwas von seiner wahren Natur in ihm.
Frische Ranken und Reben wuchsen plötzlich unter Smariss. Als sie den Drachen berührten, reagierte er, als wäre er verbrannt worden. Die Drachen-Frau zischte, heulte und schlug mit den Klauen nach den Gewächsen und dem Leuchten.
In offensichtlicher Verzweiflung verbrannte Smariss die Ranken mit ihrem feurigen Atem. Die Halme wurden gelb, dann vertrockneten sie.
Malfurion dachte an Remulos’ verwundeten Arm und hatte ein schlechtes Gewissen. Dann verstärkte er seinen Zauber.
Die Ranken wuchsen höher, die Grashalme waren schärfer. Smariss heulte wieder. Das Leuchten verstärkte sich ebenfalls.
Mit lautem Gebrüll flog der Drache in den Himmel und floh. Remulos’ Zauber umgab sie immer noch.
Als der Drache im Nebel verschwand, wandten sich die Schatten-Satyre Remulos und Malfurion zu. Doch der Halbgott richtete den Speer auf ihre Reihen, und ein Leuchten umgab die Monster. Anders als Smariss zerschmolzen sie einfach zu nichts.
Malfurion lief auf Tyrande zu, doch Remulos baute sich vor ihm auf.
„Die Axt! Nimm sie, schnell!“
Die Waffe lag verloren herum, obwohl Malfurion wusste, dass das nicht stimmte. Thura hätte die Axt niemals freiwillig aufgegeben. Der Erzdruide hätte gern erfahren, was hier geschehen war und ob Thura tot war oder noch lebte.
Die kränklich grüne Farbe des Albtraums umgab Brox’ ehemalige Waffe. Aber da war noch eine andere Aura von hellerem Grün, die von der Axt auszugehen schien.
„Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen“, sagte Remulos erleichtert. „Die Axt wurde noch nicht verwandelt.“
„Nein...“ Malfurion kniete neben der Waffe nieder. Er legte die Handflächen auf die Axt und versuchte zu spüren, was geschah. Der Erzdruide konnte die innewohnende Magie spüren, die vor so langer Zeit von Cenarius gewirkt worden war. Eine Magie, die von Azeroths ureigensten Energien gespeist wurde. „Was sollen wir tun?“
„Du musst die Energien aus der Axt ziehen. Sie in ihren ursprünglichen Zustand versetzen.“
Aufblickend meinte der Nachtelf: „Das könnte die Axt schwächen, sie womöglich zerstören.“