Remulos bäumte sich vor ihm auf. Teile seines Körpers waren immer noch von der Borke umschlossen. Dennoch bewegte er sich mit großer Schnelligkeit. Er blickte zu dem Nachtelfen hinab und warf seinen Speer.
Malfurion sprach schnell einen Zauber, aber einen, der auf ihn selbst gerichtet war. Er spürte, wie seine Verteidigung wuchs und gleichzeitig Stärke und Beweglichkeit größer wurden. Der Druide rief die Gaben der Wildnis. Das hatte er von Cenarius gelernt. Nun war er gezwungen, sie gegen den Sohn seines Shan’dos einzusetzen.
Obwohl er sein Bestes gab, um dem Speer auszuweichen, streifte ihn die Waffe dennoch. Trotz seines Schutzzaubers versengten die darin wohnenden mächtigen Energien den Erzdruiden bis auf die Knochen.
Malfurion kämpfte gegen den Schmerz an und fiel auf die Knie. Das rettete ihn vor Remulos’ blitzenden Hufen. Doch sie erwischten die Spitze von Malfurions Geweih. Sie brach ab und flog fort.
Der Nachtelf blickte in das finstere Gesicht des Halbgottes. Er konnte Xavius darin nicht mehr spüren, aber er sah auch den wahren Remulos nicht.
Der trat wieder mit den Hufen auf ihn ein. Wie der Speer leuchteten die unglaublichen dunklen Energien. Malfurion wirbelte herum, wollte ihnen ausweichen und sah, dass die abgebrochene Spitze jetzt zu einer absurden, knochigen Masse verkommen war. Er konnte sich gut vorstellen, was mit ihm passieren würde, wenn diese Hufe ihn direkt trafen.
Malfurion griff in einen anderen Beutel und suchte ein bestimmtes Pulver. Er betete zum Geist von Cenarius, ihm seine geplante Tat zu vergeben.
Gekonnt warf er dem Halbgott das Pulver ins Gesicht.
Remulos’ Hand stieß auf das fliegende Pulver zu. Das meiste wurde verbrannt und verschwand dann. Ein paar Reste kamen aber durch.
Der Hüter nieste.
„Ein letzter, wahrlich verzweifelter Versuch...“
Doch Remulos’ arrogante Bemerkung verwandelte sich in Schmerzensschreie. Er blickte an sich hinab und erkannte, dass Malfurion ihm nun die Spitze seines eigenen Speers in die Brust drückte. Der Nachtelf hatte nur eine kleine Ablenkung gebraucht, um den Speer zu erringen.
Die Waffe verbrannte trotz des Schutzes seine Handflächen. Doch Malfurion ließ nicht los. Er schob den Speer immer tiefer in den Halbgott hinein:
Remulos schlug mit seinen Klauen nach ihm und der Waffe. Seine Brust brannte vor knisternder Energie.
Dann stieß der korrumpierte Hüter ein letztes Mal den Atem aus... und brach zusammen.
Malfurion zog den Speer aus ihm heraus. Remulos atmete noch, doch ob er sich je erholen würde, war fraglich.
„Es tut mir leid...“, flüsterte der Erzdruide.
Er wurde von einer gewaltigen Kraft getroffen. Ein monströses Brüllen erfüllte seine Ohren.
Smariss packte ihn mit ihrer Pfote und hob ihn an, als wäre er ein Spielzeug. Der korrumpierte Drache flog in den Himmel empor.
„Auf die eine oder andere Art... wirst du uns dienen!“, zischte er. „ Du wirst die Axt von Azeroth loslösen und sie uns geben...“
Ein blendendes silbernes Licht umgab sie beide. Malfurion erfuhr das wundervolle Gefühl der Verjüngung. All seine Verletzungen und Schmerzen – mit Ausnahme der emotionalen Qualen, die er erlitten hatte, weil er gegen Remulos hatte kämpfen müssen – verschwanden.
Aber Smariss schien genau das Gegenteil zu spüren. Sie brüllte. Ihr Körper zuckte wild.
Vor Schmerz ließ der Drache Malfurion los. Der Erzdruide verwandelte sich augenblicklich in eine Sturmkrähe. Er breitete die Flügel weit aus und landete.
Und dann sah er Tyrande, ihr Gesicht war vor Konzentration verzerrt. Die Beine der Hohepriesterin wankten, aber sie blieb entschlossen stehen, als Elunes Licht die große Bestie einhüllte.
Smariss scherte aus. Der korrumpierte grüne Drache stieß seinen Odem in Tyrandes Richtung aus. Doch das Licht ließ den tödlichen Atem verschwinden. Verständnislos blickte Smariss mit ihrem geisterhaften Gesicht Tyrande an.
„Was tust du denn da? Was tust du denn da?“, schrie sie Tyrande an. „Ich spüre... Ich spüre...“
Ihr Körper wurde durchsichtig und verlor seine feste Form. Smariss wurde zu etwas kaum Erkennbarem, als würde sie zu einem Teil des Nebels selbst.
Malfurion landete neben Tyrande. Er wechselte die Gestalt und rannte zu ihr. Kurz bevor ihre Beine schließlich nachgaben, konnte sie der Erzdruide noch auffangen. Er atmete innerlich auf, erleichtert, dass er sie nicht wieder verloren hatte.
Über ihnen stieß Smariss ihren Odem aus. Sie war mittlerweile kaum noch als Drache zu erkennen. Vor Malfurions Augen löste sie sich schließlich auf.
Die Hohepriesterin atmete tief aus und ließ die Hände sinken.
„Ich war mir nicht sicher... ob es funktionieren würde... und erst recht nicht... nicht so...“
„Ob was funktionieren würde, Tyrande?“
Sie fasste sich. „Ich habe daran gedacht, was aus den Korrumpierten geworden ist, und ich hoffte, eine andere Taktik ausprobieren zu können. Ich habe Elunes Heilkraft so weit ausgeschöpft wie möglich, um die Verderbtheit zu entfernen...“
Malfurion blickte zu der Stelle auf, wo Smariss zuletzt geschwebt hatte. „Ich verstehe.“
„Ja... es war nichts anderes übrig als nur die Korrumpierung... und als ich versuchte, sie zu heilen... blieb nur Leere zurück...“
Der Erzdruide wollte antworten, doch er spürte eine neue Gefahr. „Xavius’ Schatten kommen. Es sind zu viele, vermute ich. Ich muss Euch von hier wegbringen.“
„Aber die Axt!“ Sie packte ihn am Arm. „Thura hat ihre Axt hiergelassen...“
„Darum können wir uns nicht kümmern“, antwortete er knapp. Stattdessen rannte er auf den Speer zu. Obwohl er wusste, wie weh es tun würde, hob er ihn auf. Als dann Tyrande bei ihm stand und Remulos bewegungslos zwischen ihnen lag, tat Malfurion, was der korrumpierte Waldhüter getan hatte.
Ein Spalt öffnete sich genau vor ihnen. Malfurion nahm Bärengestalt an und hielt dabei den Speer in der Hand, als er den schweren Remulos packte.
„Mal, was tut Ihr da! Wir müssen die Axt zurückbekommen! Ich weiß es jetzt! Ich weiß, was...“
Er brüllte ihr zu, durch das Portal zu gehen. Erleichtert bemerkte er, wie sie gehorchte.
Malfurion zog Remulos hinter sich her und folgte ihr.
Der Spalt schloss sich.
Die Schattensatyre verschwanden im gleichen Augenblick wie der Spalt. Eine Zeit lang herrschte Stille. Dann dehnte sich der Schatten des Baumes über den Bereich aus, wo die Axt lag.
Die Silhouette der skelettartigen Zweige legte sich über die Waffe, konnte sie aber nicht packen. Doch der Albtraumlord war nicht frustriert, obwohl Xavius sie nicht berühren konnte. Denn dort, wo sie jetzt lag, konnte sie auch keinen Schaden mehr anrichten.
Das tiefe Gelächter des Albtraumlords hallte über die neblige Region. Der Schatten des Baumes zog sich zurück... und der Nebel verhüllte die Axt.
26
Der Albtraum im Albtraum
König Varian stand bei der Armee und beobachtete, wie der Albtraum sich ausbreitete. In den düsteren Nebeln bewegten sich schemenhafte Gestalten und weniger gut erkennbare Kreaturen.
Die versammelte Armee wartete nicht nur auf sein Signal, sondern auch auf das von Broll. Varian war nicht so vermessen, zu glauben, er hätte das alleinige Kommando. Wie jeder andere hatte auch er erwartet, dass Malfurion Sturmgrimm derjenige sein würde, durch den die Druiden und ihre Verbündeten die Armee koordinierten.
Doch als Broll kurz seinen Geist berührt hatte und ihm mitteilte, dass er nun mit Varian zusammenarbeiten würde, hatte der Herr von Sturmwind nichts dagegen gehabt. Die beiden hatten ein wildes Leben als Gladiatoren geführt und kannten sich gut. Deshalb schlüpften sie mit Leichtigkeit in ihre alte Rolle als Kampfgefährten, als Broll schließlich verkündete, dass der Augenblick gekommen sei.
Die Traumgestalt-Armee zog aus, um sich der Finsternis zu stellen. Als sich der Albtraum um sie herum zusammenzog, bildeten sich zahllose Schattensatyre mit extrem langen Klauen.