Lass uns hoffen, dass es nicht so weit kommen wird, meinte der Aspekt und schien wieder seine Gedanken zu lesen. Mit geschlossenen Augen fügte Ysera hinzu: Bist du dir sicher, Lucan Fuchsblut? Bist du dir sicher, dass du die Risiken verstehst?
Er nickte.
Ich werde versuchen, so sanft wie möglich zu sein...
Ysera öffnete die Augen. Ihr Blick traf den des Menschen.
Für den Menschen war es, als ob jeder Traum, den er je gehabt hatte, von Neuem beginnen würde. In Yseras Augen befand sich ein ganzes Kaleidoskop von Bildern, die allesamt mit Lucan verbunden waren... und Bilder jeder anderen Kreatur, die träumte. Er wurde ein Teil dieser Träume und öffnete dem Drachen so die verstecktesten Regionen seines Unterbewusstseins...
Lucan Fuchsblut erstarrte in Ehrfurcht, als er in die Aura des Aspekts eintauchte.
Wir müssen zurück nach Azeroth, ermahnte Varian Hamuul. Sag Malfurion Sturmgrimm, dass es sein muss! Sie greifen unsere Körper an, selbst jetzt, wo wir hier gegen sie kämpfen!
Der Tauren nahm seine Worte wahr, antwortete aber nicht. Doch er suchte augenblicklich nach Malfurion, um ihn vor dem drohenden Desaster zu warnen.
Die Sorgen des Tauren erreichten Malfurion, gerade als der Nachtelf die Wahrheit hinter Xavius’ erstaunlicher Kraft erkannte. Er hatte das uralte Böse schon zuvor gespürt und konnte es nicht vergessen. Kein Wunder, dass Xavius so viel erreicht hatte, denn eine noch viel größere Finsternis stand hinter ihm.
Noch behielt Malfurion dies jedoch für sich. Weil er wusste, dass alles verloren war, wenn erst einmal alle Hoffnung schwand. Er hörte, wie Varians Wunsch ihn durch Hamuul erreichte. Der Erzdruide verstand, was der König wollte und warum. Malfurion verfluchte sich, weil er so etwas zugelassen hatte. Er hatte schon befürchtet, dass Xavius die ungeschützten sterblichen Hüllen der Verteidiger angreifen würde.
Der Erzdruide berichtete Tyrande, was gerade geschah und was er zu tun hatte. Sie nickte verstehend, obwohl auf ihrem Gesicht Schrecken und Mitleid lagen für alles, was sich Malfurion auf die Schultern geladen hatte.
„Sind wir dann verloren?“, fragte die Hohepriesterin direkt. Sie hatte offensichtlich die Dinge ebenso überdacht wie er. „Ist ganz Azeroth verloren?“
Bevor er antworten konnte, erreichte ihn wieder eine Stimme in seinem Kopf. Eine Stimme, um die er gebetet hatte, sie zu hören, bevor es zu spät war.
Malfurion Sturmgrimm... kannst du mich hören?
Herrin?
Ja... ich bin es, Ysera... hör mir zu... sieh mich...
Ein bewegtes Bild erfüllte plötzlich seinen Geist. Er sah Ysera in ihrem Gefängnis. Der Aspekt bemühte sich, seine vollen Fähigkeiten zurückzuhalten, damit Xavius und sein geheimer Meister sie nicht benutzen konnten.
Und als er das sah, erkannte Malfurion etwas Neues über seine Feinde und deren Natur. Er verstand, dass er gerade im Begriff war, einen kritischen Fehler zu begehen.
Dann erkennst du die Wahrheit...
Malfurion tat es... er spürte auch, dass er nicht allein mit Ysera sprach. Er waren noch zwei andere anwesend. Einer war der Mensch, Lucan, der als Yseras Vermittler diente, damit sie ihren Kerker umgehen konnte.
Der andere... sollte hiervon eigentlich gar nichts wissen. Doch irgendwie hatte er das Gespräch gespürt... und war darüber sehr wütend geworden.
Du bist es! Ich habe es sofort gespürt! Sie halten dich im Auge gefangen, das hätte ich wissen müssen! Diese Dreistigkeit... und diese Dummheit...
Es war Eranikus. Malfurion spürte, dass der Drache gerade Thura bei Broll abgesetzt hatte. Nachdem er nun den verzweifelten Kontakt seiner Königin mit dem Erzdruiden gespürt hatte, war nur noch ein einziger drängender Wunsch im Kopf des Drachen... sie zu befreien.
Hör mir zu, mein Gemahl!, flehte Ysera und versuchte, ihn aufzuhalten. Dein Platz ist bei Malfurion...
Ich werde dich retten!, unterbrach sie Eranikus. Seine Worte klangen so machtvoll, dass Malfurion und Lucan der Schädel dröhnte. Das schwöre ich!
Ysera verbot es ihm, aber Eranikus hörte nicht zu. Malfurion begann mit ihm zu sprechen. Doch bevor er etwas sagen konnte, schüttelte ihn eine Hand und brach den Kontakt ab.
„Mal! Vorsicht!“, schrie Tyrande.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung.
Überall waren Schattensatyre.
Doch sie waren nicht feinstofflich, sondern überaus real. Es waren lebendige Satyre, Nachfahren von Königin Azsharas hochgeborenen Dienern, die Xavius in die Verdammnis gefolgt waren. Verführt von der Macht, über die der wiedergeborene Xavius gebot, hatten sie ihre schönen Gestalten gegen diese monströsen Körper eingetauscht. Und das alles, um Sargeras, dem Herrn der Brennenden Legion, zu dienen.
Ihre Zahl schien endlos zu sein. Malfurion war wie gebannt. Die Satyre hatten sich verborgen gehalten und zweifellos lange auf das jetzt Kommende vorbereitet.
Meine Kinder haben auf diese Gelegenheit, Ruhm zu erlangen, gewartet!, spottete der Albtraumlord schadenfroh. Ich habe sie ihnen gewährt...
Die Satyre hatten Hörner, und obwohl ihre Gesichter noch größtenteils aussahen wie vor der Korrumpierung, trugen ihre dämonischen Fratzen doch tierhafte Züge. Sie grinsten wild und zeigten dabei ihre scharfen Zähne. Raues braunes Fell bedeckte die Arme, den Rücken und die Beine, die in Hufen endeten. Sie hatten zottelige Mähnen und Barte, die ihnen ein groteskes Aussehen verliehen, und in ihren Augen lag ein verderbter grüner Glanz.
Er ist es tatsächlich!, verkündete Xavius den heranstürmenden Satyren. Der verfluchte Malfurion Sturmgrimm...
Mehrere Satyre heulten aus Vorfreude, als sie die beiden angriffen.
Tyrande stellte sich vor den Erzdruiden und warf die Mondlichtgleve.
„Ich weiß, dass Ihr Euch auf die Schlacht konzentrieren müsst!“, rief die Hohepriesterin, als die Waffe den ersten Satyr zerteilte. Die drei scharfen Klingen schnitten tief in die düsteren Kreaturen hinein, bevor sie zu ihr zurückkehrten. Die Satyre starben, die obere Körperhälfte war von der anderen beinahe abgetrennt.
Dieser gnadenlose und effiziente Schlag verlangsamte die Satyre ein wenig. Doch sie versuchten weiterhin, herauszubekommen, wie sie am besten an Tyrande und den tödlichen Klingen vorbeikamen.
Malfurion aber wollte sie nicht mit ihren Gegnern alleinlassen. „Du kannst sie nicht alle besiegen!“
„Mithilfe der anderen kann ich sie vielleicht lang genug aufhalten!“
Bevor Malfurion fragen konnte, wen sie damit meinte, riss Tyrande die Gleve wie zum Gruß hoch und murmelte etwas in der geheimen Sprache der Schwesternschaft. In diesem Moment hatten die Satyre wieder genug Mut gesammelt und stürmten vor.
Das Licht von Mutter Mond leuchtete direkt vor Malfurion auf und badete Tyrande und ihre Umgebung in seinem Glanz. Malfurion bemerkte eine ganze Reihe von Gestalten, die allesamt wie Priesterinnen in Kampfrüstung wirkten. Sie sahen Tyrande sogar alle ein wenig ähnlich.
Tyrande hatte Elune um Hilfe gebeten, und sie war ihr gewährt worden. Die Kämpferinnen bestanden aus Mondlicht. Sie trugen Gleven, Bögen, Schwerter, Lanzen, Stäbe und andere Waffen und vernichteten die Satyre in der ersten Reihe. Doch immer weitere drängten nach.
Malfurion blieb nicht tatenlos, während Tyrande und alle, die sie herbeigerufen hatte, ihn verteidigten. Sie hatte recht, er musste sich auf die wahre Schlacht konzentrieren. Malfurion richtete seine Aufmerksamkeit auf zwei Dinge.
Zum einen regte er Varian und Hamuul zu energischerem Vorgehen an. Der Albtraum muss im Traumreich bekämpft werden!, drängte er. Seine Kraft liegt in den Schlafenden begründet und in all dem, was er Ysera abpressen kann! Zwingt ihn, seine Kraft vornehmlich dort einzusetzen, um sich zu verteidigen!