Выбрать главу

Man hatte gewusst, dass die Nordatlantikströmung ihre Stabilität verlieren konnte. Eisbohrkerne hatten bewiesen, dass das schon mehrmals geschehen war, zuletzt vor achttausend Jahren. Danach war das Klima für zweihundert Jahre stark abgekühlt – möglicherweise die Folge eines Supersturms, wobei die Eis- und Schneeschicht, die er zurückgelassen hatte, das wärmende Sonnenlicht in die Atmosphäre zurückgestrahlt hatte.

Aber niemand hatte gedacht, dass das Gleiche so schnell wieder geschehen würde. Die Unmengen von Energie, die nötig gewesen wären, um die Strömung zu kappen, ließen diese Möglichkeit als ein Problem für eine ferne Zukunft erscheinen, nicht für die Gegenwart. Hinter dieser Haltung steckte auch die Autorität von anerkannten Wissenschaftlern. Mit dem Princeton Ocean Model war berechnet worden, dass ein kritischer Teil der Strömung viel zu stark war, um sich von leichten oder mittleren Schwankungen in den Meerestemperaturen beeinflussen zu lassen, und es schon Veränderungen bedurfte, die weitaus dramatischer waren, als die verschiedenen Modelle zur Erderwärmung voraussagten.

Aber diese Modelle waren nicht darauf angelegt, das Abschmelzen der Polkappen zu berücksichtigen. Und sie bezogen auch nicht mit ein, was passieren würde, wenn sich vom Nordpol oder von den sterbenden Grönlandgletschern reißende Süßwasserfluten ins Meer ergossen.

Weltweit arbeiteten die Wissenschaftler an besseren und exakteren Modellen zum Verhalten der Strömungen, aber noch waren ihnen mangels Daten und Rechnerkapazität Grenzen gesetzt.

Offensichtlich hatte es eine dramatische Wende gegeben, eine, die alle bisherigen Ergebnisse zu Altpapier machte. Organisationen wie die NOAA und die vielen befreundeten Institute außerhalb der USA waren nicht flexibel genug, um schnell auf Unerwartetes zu reagieren. Das war ihre Schwachstelle. So bestand stets die Gefahr, von den Ereignissen überholt zu werden.

Immerhin versuchten sie in dieser unglaublichen Situation ihr Möglichstes. Leider fehlte es ihnen an Fantasie. Ein eilig einberufenes Komitee entschied, dass das Störungen seien, die nach vier, fünf Jahren von selbst verschwinden würden, und die Öffentlichkeit Zeit genug hätte, um sich den neuen Bedingungen anzupassen.

Unrecht im eigentlichen Sinne hatten sie nicht. Das Wetter würde in jedem Fall auf Jahre hinaus verrückt spielen. Aber sie waren einfach nicht in der Lage, sich vorzustellen, mit welcher Urgewalt dieser Prozess einsetzen würde. So etwas lag zu weit außerhalb ihrer, ja, aller menschlichen Erfahrung.

Niemand hatte in geschichtlicher Zeit erlebt, geschweige denn festgehalten, welche Zerstörungen die entfesselte Natur anrichten kann. Niemand konnte sich einen Begriff davon machen.

Aber dann geschah etwas, das jedem Wissenschaftler, der sich mit diesem Problem befasste, die Sprache verschlug. Die Fachleute waren regelrecht gelähmt, als ihnen dämmerte, was die Daten bedeuteten. Aus einem kleinen Inuit-Dorf in Nordkanada war gemeldet worden, dass es in einer einzigen Stunde einen Temperatursturz von 40 Grad Celsius gegeben hatte.

Das ließ nur einen Schluss zu.

Bisher war die Vorstellung, dass die Zirkulation des Sturms so gewaltig sein konnte, dass er sogar extrem abgekühlte Luft ansaugte, ein Thema für wissenschaftliche Übungen gewesen, aber kein echtes Problem.

Doch genau das war sie jetzt.

Wissenschaftler an verschiedenen Zweigstellen der NOAA im nördlichen Teil der USA begannen in aller Stille Vorkehrungen für den Umzug ihrer Familien in den Süden zu treffen und fragten schon mal Freunde und Verwandte in Texas, Florida, Südkalifornien und den Wüstengebieten, ob sie sie unterbringen könnten.

So begann die größte Völkerwanderung der Menschheitsgeschichte. Es waren zunächst nur ein paar Autos mehr, die sich in den üblichen Verkehrsfluss einreihten.

Die Winde beschleunigten sich in der gesamten Arktis. Ein gewalttätiger Sturm nach dem anderen tobte, schraubte seine Wolkenspitzen in nie da gewesene Höhen, um sofort vom nächsten überboten zu werden.

Die Wetterdienste der USA und Kanadas leiteten Notfallmaßnahmen ein. In einer Serie von Konferenzen regelten die zwei für Wetterkatastrophen zuständigen US-amerikanischen Ämter EMWIN und FEMA alle nötigen Schritte, um die Bevölkerung auf eine, wie man jetzt mit Sicherheit wusste, dramatische Störung vorzubereiten.

Die Einwanderungsbehörde wurde vom Präsidenten in Kenntnis gesetzt, dass die Grenze zwischen den USA und Kanada ab sofort für Flüchtlinge geöffnet war und Nahrungsmittel rationiert wurden. Notunterkünfte und Behelfsküchen wurden eingerichtet. Vertreter der FEMA überraschten manchen Behördenchef, als sie landesweit dazu aufriefen, Schulen und sonstige öffentliche Gebäude als Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Lebensmittel und Medikamente wurden zu den jeweiligen Ausgabestellen geschafft. Etwas unauffälliger stellte man auch Leichensäcke bereit – allerdings nur einige hunderttausend.

So richtig klar war die Lage niemandem. Sogar jetzt noch nicht.

Eine Reihe von Regierungsmitgliedern hielt diese Vorkehrungen für ausgemachten Unsinn, und es dauerte nicht lange, bis sämtliche Details zu den Direktoren der Blue Foundation durchsickerten, einer Expertenkommission mit hohem Einfluss im Kongress.

Abgeordnete begannen, unangenehme Fragen zu stellen: Was wurde da gespielt? Warum und wofür wurde all das Geld ausgegeben? Welche Etats waren betroffen? Der Rechnungshof wurde damit beauftragt, die Vorkehrungen der FEMA zu überprüfen. Aus Furcht, die EMWIN könnte ähnlich bloßgestellt werden, legte die NOAA deren Pläne auf Eis.

Folglich wurden in den Notunterkünften keine Lebensmittelvorräte angelegt, auch wurden die Krankenhäuser nicht über eine mögliche Krise in Kenntnis gesetzt. Das Internationale Rote Kreuz und die Weltgesundheitsorganisation wurden im Dunkeln darüber gelassen, dass sich die dramatischste Klimaveränderung der Weltgeschichte anbahnte, und das schnell.

Das Wetter scherte sich freilich nicht im Geringsten um die Machenschaften der politischen Strategen von der Blue Foundation.

Der erste Hilferuf kam aus Nordkanada. Strenge Winter waren dort der Normalfall. Von Oktober bis April fegte dort seit jeher eine Polarfront nach der anderen über das Land hinweg. Man war Kälte gewohnt und ließ sich von Februarstürmen nicht beeindrucken. Doch mit dem, was sich jetzt in den Northwest Territories abzeichnete, hatte niemand Erfahrung.

In den letzten Jahren hatten sich die Temperaturen so sehr erwärmt, dass nun der Permafrostboden auftaute. Wie überall dort, wo der Polarkreis besiedelt war, wackelten Gebäude in ihren Grundmauern und starben Bäume im Sommer bei Überschwemmungen ab. Im letzten August hatte es zum vierten Mal hintereinander eine Hitzewelle mit über 30 Grad Celsius gegeben. Immer mehr Menschen litten an akuten Atemwegserkrankungen. Schimmel, Pollen und riesige Mückenschwärme durchsetzten die Luft. Der Herbst hatte sich erst Ende Oktober eingestellt. Und der Winter war bisher verhältnismäßig mild ausgefallen. Unter minus 20 Grad war das Thermometer noch nicht gesunken, und Blizzards hatte es kaum gegeben.