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Im Norden Europas hatte das Desaster unvorstellbare Ausmaße angenommen. Schweden lag unter einer zwei Meter dicken Schneedecke begraben. Und es schneite noch immer in dicken Flocken, beinahe zehn Zentimeter pro Stunde. Die Temperatur lag bei minus 50 Grad, der Wind fegte mit 180 Stundenkilometern über das Land. Es gab auch Überlebende, in den großen Städten und auf Bauernhöfen, die mit einem eigenen Generator ausgestattet waren. Wahre Magneten waren nun auf einmal die Atomkraftwerke. Ohne sich um die Vorschriften zu kümmern, durchbrachen die Leute die Zäune und drängten sich im warmen Inneren der Anlagen, bis das Stromnetz zusammenbrach und keine Energie mehr floss.

Der Sturm zog blind und unbarmherzig weiter. Von den Geschehnissen in Skandinavien gewarnt, beschloss die französische Regierung, Paris gegen den Sturm zu verteidigen. Angesichts der Bedrohung sah man keine andere Möglichkeit.

Aus dem ganzen Land wurden in aller Eile Räumgeräte in die Hauptstadt geschafft. Die meisten kamen aus den Alpen. Und kaum zogen die Pflüge Schneisen durch den Schnee, strömten lange Reihen von Flüchtlingen hinterher.

Allerdings folgten diese Leute den Schneeräumern nicht den ganzen Weg bis Paris. Stattdessen zog es sie in den Süden, und bald wimmelte es in den Städten an der Côte d’Azur wie sonst nur im August.

So diskret sie es nur vermochte, verlegte die Regierung die wichtigsten Abteilungen nach Marseille, doch viele Institutionen mussten in Paris bleiben.

Und Paris zog in einen Krieg. Es war der Mut der Verzweiflung, Trotz gegen etwas, das so entsetzlich war, dass man es gar nicht fassen, geschweige denn sinnvoll bekämpfen konnte. Gleichwohl setzte die Stadt alles daran, sich zu retten.

Der Sturm, der nur per Satellit als strukturiertes, einheitliches Ganzes erfasst werden konnte, schien am Boden aus einer endlosen Serie von Einzelblizzards – einer schlimmer als der andere – zu bestehen. Ungebremst rasten sie über das Land, bis sie sich in einem grässlichen Gewitter entluden und buchstäblich selbst zerfetzten oder gegen ein Gebirge prallten.

Als die Spitzen ihrer Wolken weit genug in die Höhe ragten, setzte eine grausame Kaltluftzirkulation mit ultrahohen Winden ein, die alles, was unter ihr lag, verwüstete. Trafen solche Zellen Städte, wie das in Edinburgh und Sankt Petersburg geschah, blieb kein Stein auf dem anderen.

Schnee fiel über ganz Frankreich. Selbst die Atlantikhäfen froren zu, weil die warmen Strömungen, die das Klima bisher gemildert hatten, von der neuen kalten Zirkulation aufgesogen worden waren. Orte wie Biarritz, in denen sonst das ganze Jahr über angenehme Temperaturen herrschten, waren mit einem Schlag der Wut des Atlantiks ausgesetzt.

Paris wehrte sich, Paris kämpfte. Oberirdische Stromleitungen und Kraftwerke wurden mit Dutzenden von Arbeitern bemannt, jeder mit einem ölbetriebenen Heizstrahler bewaffnet. Einheiten von Technikern hielten sich bereit, zu jedem Ort zu eilen, an dem die Stromzufuhr unterbrochen war. Eines stand für alle fest: Wenn der Strom ausfiel, war der Krieg gegen den Sturm verloren.

Warum Paris so erbittert kämpfte? Weil es sich als das lebende Symbol der westlichen Zivilisation verstand, der Hort der erhabensten Kunstwerke, das Zentrum des Abendlandes. Es setzte sein eigenes Überleben mit dem der Zivilisation gleich, zu deren Geburt es so viel beigetragen hatte.

Darum glühten die Lichter von Paris auch dann noch, als sich der dunkle Sturm über die Stadt senkte. Natürlich hielten Tausende und Abertausende von Parisern all die Maßnahmen für sinnlos und schlossen sich den Flüchtlingsströmen nach Süden an. Aber sie waren nicht dumm. Darum zogen sie nicht etwa in Richtung Provence, sondern strebten den Midi an, der vielleicht etwas kühler war, aber bestimmt ein bisschen billiger.

Inzwischen wurde eine auf Paris zurasende Superzelle beobachtet, die zehn Zentimeter Schnee pro Stunde und Winde mit Geschwindigkeiten von über 140 Kilometern mit sich brachte. Dieser Sturm schlug in einem Moment zu, als bereits eine meterdicke Schneedecke über der Stadt lag. Die kleineren Straßen hatte man bereits dem Sturm überlassen müssen, und der Katastrophenschutz ging nun dazu über, nur noch die Hauptverkehrsadern zu räumen.

Paris war vom Norden des Landes abgeschnitten. Die Versorgung über die Autobahn und die Schnellstraßen in den Süden war zwar noch möglich, aber nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung wurden keine Nahrungsmittel mehr geliefert. Die Stadt musste die ersten Rationierungen hinnehmen, und diejenigen, die geblieben waren, begannen unter dem Mangel zu leiden. Dennoch hatte die Stadt noch Strom, und solange der funktionierte, hieß es allgemein, würde die Stadt durchhalten. Der Wind heulte durch die Streben des Eiffelturms und um die Kuppel der Kirche Sacré-Coeur. Gewaltige Schneeverwehungen trieben über die Champs-Elysées, die Avenue Foch und die Rue de Rivoli. Die Gärten der Tuilerien waren unter einer weißen Decke begraben, die Avenue Charles de Gaulle wurde unpassierbar.

Paris, das in einer weiten Ebene liegt, über die sich nur wenige niedrige Hügel erheben, wurde von immer wütender werdenden Winden geschüttelt. In der ganzen Stadt brachen nun Dächer ein; Dachziegel und Isolationsmaterial wurden durch die Luft geweht wie Herbstlaub.

Aus den Hochhäusern am Montparnasse wurden Aluminium und Glasscheiben gerissen, sogar Büromöbel flogen durch die Luft. Unmengen von zertrümmerten Autos, Schreibtischen, Fensterrahmen, Markisen und Schutt jeder Art wurden durch die Straßen gewälzt, verstopften Kreuzungen und lagen bald bis zu fünfzehn Meter tief unter Schneeverwehungen.

In den unter der Erde gelegenen Abschnitten des U-Bahn-Netzes fuhr die Metro noch immer, aber die Bahnhöfe mussten geschlossen werden. Die Innenstadt war inzwischen vollends isoliert, als stünde sie unter Belagerung.

Trotzdem beharrte Paris weiter auf dem, was sein Flair ausmachte. Es starb nicht völlig. So unglaublich es schien, aber eine Reihe von Kinos schafften es, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Wie? Niemand wusste eine Antwort. Aber es war Tatsache, dass das Grand Rex »Dien Bien Phu« zeigte, ein trübsinniges Epos über das Auseinanderbrechen des französischen Indochina. Warum der Betreiber gerade diesen Film gewählt hatte, war nicht ganz klar, aber irgendjemand hatte sich wohl etwas dabei gedacht. Das Studio 28, wo Bunuels »Age d’Or« 1930 seine Premiere erlebt und öffentliches Ärgernis erregt hatte, brachte rund um die Uhr eine Jerry-Lewis-Werkschau, die während der Dauer des Sturms kostenlos war.

Trotz ausbleibender Lebensmittellieferungen bemühten sich viele Restaurants weiter um die Kunden, wenn auch nur, weil die Inhaber die Stadt nicht mehr verlassen konnten und darum nicht viel anderes zu tun hatten.

Dann kam es im Restaurant Jules Verne in der Nähe des Eiffelturms zu einer Tragödie. Der Sturm drückte eine Fensterfront ein, und Gäste wie Personal mussten in aller Eile evakuiert werden, allerdings nicht ohne Verluste. Eine unbekannte Anzahl von Leuten blieb in den Trümmern zurück, vermutlich tot.

Die Rettungsdienste konnten den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Die über die ganze Stadt verteilten Leichen wurden nicht mehr gezählt, blieben liegen; es wurde erst gar nicht mehr nach ihnen gesucht.

Und der Sturm nahm immer noch zu. Nachrichten aus Nordeuropa, egal aus welchem Land, blieben nun völlig aus, bis auf ein schwaches Signal, von dem man annahm, dass es aus einer unterirdischen russischen Militäranlage kam.

Sämtliche Unterabteilungen der Regierung waren in der Stadt eingeschlossen. Frankreich ersuchte um internationale Hilfe.