Spanien, Portugal, Italien, die Türkei und Griechenland hatten keine großen Schäden erlitten, aber es war unmöglich, Hilfsmittel über die Alpen oder die Pyrenäen zu schaffen. Das Vereinigte Königreich litt noch schlimmer unter den Verwüstungen als Frankreich. Der Norden der britischen Inseln war unbewohnbar geworden, und Millionen von Flüchtlingen drängten nach Süden. Den Gebieten, die normalerweise vom Golfstrom erwärmt wurden, erging es nicht besser als der französischen Atlantikküste. Die Strömung war versiegt, sodass nichts mehr den Atlantik daran hinderte, das ganze Land mit seinem tödlichen Frost zu überziehen.
Großbritannien hatte ungefähr die Hälfte seiner Bevölkerung verloren, wenn nicht noch mehr. Die ganze Infrastruktur war zusammengebrochen. Nichts ging mehr. Die Überlebenden waren in den hoffnungslos überfüllten Dörfern und Städten an der Südküste gefangen. Frierend und dem Verhungern nahe kauerten sie sich aneinander.
Aus Irland kamen keine Meldungen, genauso wenig aus Island oder Grönland.
Dennoch leuchteten die Lichter von Paris weiter im Sturm. Im Lucas Carton kreierte der Chefkoch Alain Senderens eine Nachspeise aus Schnee und Zitronat. Die Pianisten im Le Zephyr spielten praktisch ununterbrochen. Neue Designerdrogen, die Kalt als Warm erscheinen ließen, fanden reißenden Absatz.
Für einen Katzenfellmantel wurden auf einmal 50000 Euro, eineinhalb Unzen Gold oder ein Pfund Rindfleisch verlangt. Ein Paar Schneeschuhe aus Blech und alten Autoreifen war für 1000 Euro zu haben.
Aber auf Schneeschuhe kam es gar nicht so sehr an, wenn man ins Freie gehen wollte. Was es zu schützen galt, waren Kopf und Gesicht. Nicht einmal einen kurzen Moment durfte man sich der Kälte aussetzen. In der Nacht sanken die Temperaturen auf minus 56 Grad.
Die Satellitenbilder ließen auf kein Erlahmen des Sturms hoffen. Dennoch änderte sich etwas. Das Wasser des Atlantiks wurde immer kälter, sodass die Bedingungen, die den Supersturm entfesselt hatten, ein natürliches Ende fanden.
Dennoch heulten die Winde weiter, erstickten die Straßen mehr und mehr unter Schnee.
Die Stromversorgung war so weit heruntergefahren worden, dass nur noch die wichtigsten Einrichtungen geheizt werden konnten. In den Museen wurden Gemälde von den Wänden genommen und in den Kellern gelagert. Die Orangerie, der Louvre, das Musée d’Orsay, sie alle bemühten sich verzweifelt, ihre Schätze zu schützen. Der Wind zerschlug Fenster, fegte durch kahle Säle und bedeckte alles, was ihm in den Weg kam, mit Eis. So glitzerte die Venus von Milo im Lichtkegel der Taschenlampen ihrer Wächter wie ein außerirdisches Wesen.
Aber noch gab es Lichter. Zwar flackerten sie hin und wieder, aber nie lange. Jede Heizung außer der elektrischen war jetzt abgeschaltet. Die Öl- und Gasvorräte waren restlos verbraucht.
Brände begannen nun die Probleme der erfrierenden Stadt zu verschlimmern, weil man versuchte, den Ausfall der anderen Heizquellen durch Strom zu ersetzen, und an allen Ecken und Enden überforderte Leitungen durchbrannten.
Niemand war in der Lage, die Feuer einzudämmen, und so blieb nichts anderes übrig, als die lodernden Gebäude sich selbst zu überlassen.
Das Moulin Rouge stellte eine Aufführung mit dem Titel »Les Demoiselles de la Neige« (Die Schneemädchen) auf die Beine, und tatsächlich fand sich eine Hand voll Gäste ein, die sich ansahen, wie drei ältere Prostituierte vom Montmartre und zwei Transvestiten schlotternd gefütterte Regenmäntel auf- und zuklappten.
Und dann gingen die Lichter aus. Es geschah unter dem düsteren Mittagshimmel. Erst ein Flackern, dann Dunkelheit. Alle warteten – im Präsidentenpalast, in der Métro, in den Krankenhäusern, den Wohnungen, den Restaurants, den Läden, den Kinos, den Theatern. Jeder wartete. Die Lichter kehrten nicht zurück.
21.
Der Mechanismus des Schicksals
Der Supersturm wäre der sichtbarste Teil des Klimawandels, der uns schleichend aus unserer gegenwärtigen milden Periode in eine neue Eiszeit versetzt. Aber er wäre nicht der Anfang dieses Vorgangs. Vieles müsste geschehen, damit eine solche Katastrophe ausbrechen könnte, und es müsste eine Kettenreaktion geben. Das ist der Grund, warum der Sturm – wenn er sich denn überhaupt ereignet – so selten auftritt.
Die Kettenreaktion spielt sich so ab: Der Treibhauseffekt muss eingetreten sein, und er muss einen solchen Extremwert erreichen, dass die Arktis zu schmelzen beginnt. Von dem frei gewordenen Süßwasser muss ins arktische Meer eine Menge abfließen, die ausreicht, um es so stark zu erwärmen, dass der Temperaturunterschied zu den tropischen Gewässern verringert wird. Infolge der Angleichung der Temperaturen schwächt sich die Strömung ab.
Kann kein warmes Wasser mehr bis in die arktischen Gewässer vordringen, sinkt deren Temperatur. Das bedeutet die Unterbrechung der Luftzirkulation. Kalte Luft, die bisher hoch über der Arktis gebunden war, senkt sich und treibt südwärts ab. Weil zugleich warme Luft aus dem Süden nach Norden geströmt ist, kommt es zu einem Zusammenprall der Luftmassen. Verschlimmert wird die Situation durch die extreme Kälte der Stratosphäre. Je größer die Gegensätze bei der Kollision, umso gewalttätiger wird der Sturm toben.
Wenn all diese Voraussetzungen eintreten, sind verheerende Unwetter die zwangsläufige Folge. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich zu einem Supersturm ausweiten. Die Spuren, die vor 8000 Jahren entstanden sind, weisen darauf hin, dass die globale Erwärmung ein Ausmaß erreicht hatte, das der heutigen Entwicklung entspricht. Damals kam es zu einer plötzlichen Schmelze in der Arktis, und eine Flut von Süßwasser ergoss sich ins Meer. Auch heute ist laut australischen Ozeanologen in riesigen Bereichen der Weltmeere das Wasser schon weniger salzhaltig, und die Arktis verliert im Durchschnitt 80000 Quadratkilometer Eis pro Jahr.
Die Arktis schmilzt also bereits, und nach Lage der Dinge ist es nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis eine intensive Sommerschmelze eine Entwicklung einleitet, die einen Supersturm begünstigt.
Wenn der Sturm sich nach vier bis sechs Wochen verzogen hat, wird die nördliche Hemisphäre verheerende Schäden erlitten haben. Ein beträchtlicher Teil der nördlichen Halbkugel wird von Schnee bedeckt sein, und weite Gebiete werden unter einer hart gefrorenen, dicken Eisdecke liegen. Je nach der Jahreszeit, in der der Supersturm auftritt, wird er entweder eine neue Eiszeit einleiten, oder aber die bei einer Schmelze abfließenden Wassermassen lösen eine Flut biblischen Ausmaßes aus.
Wie weit sind wir davon entfernt? Dieses Szenario käme so schrecklich und unvermittelt über uns, dass wir uns die Folgen kaum ausmalen können. Und tatsächlich könnte es nur noch eine Frage von wenigen Jahren sein. Allein schon deshalb sollten wir uns das, was zurzeit geschieht, genau anschauen. Und wenn wir etwas ändern können, dann sollten wir schleunigst herausfinden, was es ist und wie wir es am besten angehen.
Als Erstes müssen wir die gegenwärtige Situation erfassen. Schon heute zeichnet sich eine Reihe von Phänomenen ab, die das Vorspiel zu einem Supersturm darstellen können. Zuallererst ist dabei die Antarktis betroffen. In einem Supersturm spielt sie zwar nicht unmittelbar eine Rolle, aber wenn von den schmelzenden Polkappen gewaltige Mengen an Süßwasser ins antarktische Meer fließen, wird dort das Wasser schlagartig bedeutend wärmer. Die um diese Zeit ohnehin geschwächte Sogkraft aus dem Norden wird dann kaum noch ausreichen, um die Zirkulation der ozeanischen Strömungen in dem Maße, wie wir es gewohnt sind, in Gang zu halten.