In London genauso wie in New York, Moskau oder Toronto beginnen die Lichter der Zivilisation zu flackern und matter zu werden. Die Zahl der eingestürzten Gebäude steigt in astronomische Höhen; sie sind der nie für möglich gehaltenen Belastung durch die Winde und dem Gewicht der Schneemassen einfach nicht mehr gewachsen.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Todesrate unter den vom Sturm Eingeschlossenen sich den 100 Prozent nähert. Nur wenige Glückliche bleiben am Leben – sofern man sie glücklich nennen kann. Wenn sie dann noch durchhalten, bis Mitte März endlich wieder die Sonne herauskommt – immer angenommen, der Sturm ist im Februar ausgebrochen –, finden sie sich in einer riesigen, grellen Eiswüste wieder, einer heimtückischen Ebene, über die böige Winde hinwegfegen.
Die großen Zentren der Zivilisation sind zum größten Teil zerstört. Die gebildete Minderheit der Menschheit ist innerhalb weniger Wochen um gut 20 Prozent dezimiert worden.
In den USA liegt die südliche Grenze des Sturms unterhalb von Kansas City. Wenn noch Mitglieder der Bundesverwaltung am Leben sind, haben sie die neue Zentrale nach Atlanta oder noch weiter südlich verlegt.
Die Vereinigten Staaten haben wahrscheinlich zwischen einem Drittel und der Hälfte ihrer Bevölkerung verloren. Kanada, Russland, Finnland, Schweden, Norwegen, Island und Schottland sind praktisch ausgestorben. Die britischen Inseln sind verwüstet. Von den europäischen Ländern sind nur Spanien, Portugal und Italien verschont geblieben. Dort, wo der Sturm nicht zu permanentem Frost geführt hat, löst die Frühlingsschmelze in jedem Flusssystem der nördlichen Hemisphäre gewaltige Überschwemmungen aus. In diesem Teil der Welt muss man schon bis nach Mexiko oder nach Nordafrika vorstoßen, um völlig intakt gebliebene Länder zu finden. In den Brennpunkt der menschlichen Zukunft rücken Länder wie Brasilien, Argentinien, Mexiko und Südafrika. Hongkong und Singapur steigen zu globalen Finanzmetropolen auf. Australien, Neuseeland und Japan sind zwar vom Sturm gestreift worden, werden sich aber sehr bald wieder erholen.
Von der Jahreszeit, in der der Sturm aufgetreten ist, hängt es ab, ob es nach seinem Abflauen verheerende Überschwemmungen oder eine neue Eiszeit gibt.
Die Mythen der Urvölker schildern Fluten von wahrhaft epochalem Ausmaß. Genauso kennen auch viele Stämme der Great Plains wie die Mandaw, Choctaw oder Knisteneaux eine verheerende Flut. In einer Legende der Knisteneaux ist sie so gewaltig, dass sie die Prärie in einen einzigen Ozean verwandelt und praktisch die ganze Bevölkerung ertränkt. Die Tatsache, dass an höher gelegenen Stellen haufenweise Knochen von Mammuts, Rhinozerossen und anderer Tiere gefunden worden sind, bestätigt den Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen.
Wenn nun aber das Eis schmilzt, sind verheerende Fluten unvermeidlich. Südlich der ohnehin schon verwüsteten Randgebiete verwandelt sich dann der Mississippi vorübergehend in einen Hunderte von Kilometern breiten Strom, der alles, was ihm im Weg liegt, überflutet. Ohne Kommunikation und Brennstoffe wird jede Siedlung ihrer Infrastruktur beraubt, sodass die Bewohner es nicht schaffen werden, sich lange gegen die neue Gefahr zu behaupten.
Bleibt die Schmelze aus, hat man in den nicht direkt vom Sturm betroffenen Gebieten zunächst vergleichsweise gute Aussichten zu überleben. Die südlich gelegenen Staaten der USA dürften ihre bisherige Organisation hinreichend lange beibehalten. Südkalifornien kann auf seine natürlichen Anbaugebiete im Imperial Valley zurückgreifen und auch der Old South wird sich selbst ernähren können, wenngleich durch den Ausfall der Mais- und Weizenlieferungen aus dem nun verwüsteten Mittleren Westen Engpässe zum Alltag gehören werden und vor allem Brot knapp werden dürfte.
In weiten Teilen der übrigen Welt, die von Getreideimporten aus Nordamerika abhängt, breitet sich bald eine Hungersnot aus. Der Treibstoffmangel tut ein Übriges, was vor allem Inselstaaten betrifft, wo die Bevölkerung in jeder Hinsicht vom Rest der Welt abgeschnitten ist.
Auf dem Festland löst der Hunger eine wahre Völkerwanderung aus. Immer mehr Mexikaner suchen im Südwesten der USA Arbeit, was zu einem Anstieg der Gewalt führt, zumal die Einheimischen panisch ihre Lebensmittelvorräte und die letzten Reste dessen verteidigen, was einmal ihre Gemeinschaft ausgemacht hat.
Da sich der Sturm vermutlich innerhalb einer bestimmten Demarkationslinie entwickeln wird, werden die Unterschiede zwischen den betroffenen Gebieten und denen, die verschont bleiben, gewaltig sein. Die nähere Umgebung der Rockies, der Alpen und des Himalaja erstickt nach und nach im Schnee. In Russland, Kanada, dem Norden der USA und in Nordchina ist schon zu Anfang alles erfroren. Länder wie Singapur, die bis dahin im Schatten ihrer größeren Nachbarn gelebt haben, steigen geopolitisch in die erste Reihe auf, wenn auch nur dank des Ausfalls der anderen.
Wenn die Eismassen im Laufe der Jahre anwachsen, werden auch die Bewohner der am Anfang noch sicheren Gebiete immer mehr durch die sich verschlechternden Bedingungen beeinträchtigt. Letztlich könnte sich in Spanien oder Louisiana ein Klima entwickeln, wie es heute in Sibirien herrscht. Von einer gemeinsamen Kultur der Menschheit kann dann nicht mehr die Rede sein. Man kämpft nur noch ums Überleben in einer zunehmend feindseligen Umwelt.
Leider dauern Eiszeiten sehr viel länger als Perioden der Erwärmung. Das Schicksal der Menschheit wird inzwischen einen tiefen Wandel erfahren haben.
Wenn man in der Lage war, die wissenschaftlichen Erkenntnisse unserer heutigen Zeit zu bewahren und zu erweitern, wird man zweifellos bestrebt sein, das Wetter zu verstehen und letztlich zu kontrollieren. Und wenn die Mechanismen des Wetters einmal umfassend begriffen worden sind, setzt man womöglich alles daran, die Situation zu verbessern. Das könnte so weit führen, dass man die größte bauliche Leistung in der Geschichte der Menschheit in Angriff nimmt: nichts weniger als die Trennung der zwei Amerika, die noch durch eine Landbrücke miteinander verbunden sind.
Durch einen Teil von Zentralamerika könnte von einer Zivilisation, die die Natur des Wetters verstanden hat, ein viele Meilen breiter Kanal gegraben werden. Damit ließe sich die Äquatorialströmung der Vorzeit wieder beleben, und mit ihr könnte das klimatische Gleichgewicht zurückkehren, das so viele Millionen Jahre lang günstige Lebensbedingungen garantierte.
Die so geschaffene Strömung würde weitgehend wie in der archaischen Vorzeit um den Äquator fließen und erneut Wärme auch zu den abgelegeneren Teilen der Welt transportieren. Ausgeglichenere Jahreszeiten wären die Folge. Das Eis würde schmelzen, und eine stark dezimierte, doch weiser gewordene Menschheit würde schrittweise die verloren gegangene Welt zurückgewinnen und mit ihr die Mythen, die Erinnerungen und den Glanz unseres heutigen Zeitalters.
Epilog.
New York
Es war so weiß, das Land. Der Himmel war von einem solch unglaublich tiefen Blau. Und die Luft hatte etwas Reines, an das nichts heranreichte, was Bob Martin je erlebt hatte. Bei minus 53 Grad war beim Einatmen höchste Vorsicht angebracht, aber Bob war gut ausgerüstet. Irgendwie mussten sich die Astronauten ähnlich vorgekommen sein wie er jetzt, dachte er.
Als Leiter eines dreiköpfigen Bergungstrupps hatte er den Auftrag, im Planquadrat Manhattan 4-A-2 (der Bereich zwischen Fortieth bis Forty-fifth Street und Fifth und Seventh Avenue) in der verwüsteten Stadtlandschaft Wärmequellen aufzuspüren, die möglicherweise Spuren von Leben darstellten. Zu diesem Zweck war Bob mit einem Infrarotsensor ausgestattet, mit dessen Gebrauch er aus seiner Zeit bei der Army gut vertraut war.
Er hatte diese Aufgabe angenommen, weil Leben davon abhingen. Schließlich war er bei den Rangers gewesen, wo man ihn bestens für solche Einsätze vorbereitet hatte. Und im Golfkrieg hatte er einem Aufklärungskommando angehört, das den Auftrag hatte, mithilfe solcher Sensoren irakische Wachposten aufzuspüren.