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Er hatte sich aber auch aus einem anderen Grund gemeldet. Er selbst hatte den Sturm nicht direkt zu spüren bekommen. Martie und die Kinder waren in Sicherheit in Austin, wo er rechtzeitig eine Eigentumswohnung gekauft hatte, bevor die Preise explodiert waren. Sie hatten die hübsche Vierzimmerwohnung für 235000 Dollar bekommen; heute könnte er sie für eine Million oder mehr verkaufen.

Er war also auch deswegen hier, weil er und seine Familie überlebt hatten. Natürlich nicht ohne Verluste. Das konnte kein Mensch auf der Welt von sich behaupten. Martie hatte noch einen Ausdruck der letzten E-Mail ihres Bruders aus England und würde ihn immer sorgsam aufbewahren. Er war an seinem Schreibtisch beim Sammeln von Satellitendaten für den britischen Meteorologischen Dienst gestorben, daran bestand kein Zweifel.

Wie Bob das sah, hatte jeder Überlebende mit Erste-Hilfe-Kenntnissen die moralische Verpflichtung, Leben zu retten, zumal dann, wenn er solches Glück gehabt hatte wie er selbst.

Bob und seine zwei Kollegen zogen in ihren Schneeschuhen langsam durch die Fortieth Street und spähten dabei direkt in die Fenster im vierten oder fünften Stockwerk der Gebäude. Überall fehlte das Glas, und in den Zimmern türmte sich der Schnee bis zur Decke auf.

Das New Yorker Stromnetz war bereits in den ersten Stunden des Sturms zusammengebrochen. Die Stadt hatte sich mit aller Macht gegen die Katastrophe gewehrt, aber dann war auch die Gasversorgung ausgefallen. Nach drei Tagen waren die Öllieferungen ausgeblieben. Über zwei Millionen New Yorker waren auf den mautpflichtigen Privatstraßen und den Interstate Highways über Richmond und Washington, D. C. wo das Schlimmste bereits vorüber war, in den Süden entkommen. Elf Tage lang hatten unglaublich tapfere Arbeitstrupps aufopferungsvoll darum gekämpft, die Straßen frei zu halten. So hatten sie Millionen Leben gerettet, oft auf Kosten des eigenen.

Trotz aller Bemühungen lagen nach vorsichtigen Schätzungen allein in Manhattan noch mindestens eine Million Menschen unter den Trümmern und Schneemassen begraben. Sie alle waren wahrscheinlich tot. Aber was, wenn auch nur einer noch lebte?

In Manhattan waren insgesamt sechs Bergungstrupps unterwegs, fünf weitere suchten den Rest von New York ab. Mehr Teams hatten sich bisher nicht finden lassen, obwohl im ganzen Land eigentlich Tausende dringend gebraucht wurden. In Städten wie Philadelphia, Saint Louis, Kansas City oder Salt Lake City konnten noch Überlebende ausharren, deren Chancen auf Rettung von Stunde zu Stunde schwanden.

Da es keine handlungsfähige Zentralregierung mehr gab, hatten die Gouverneure der überlebenden Staaten einen provisorischen Regierungsrat gebildet. Das Kommando des Landesheeres war der U. S. Fifth Army in San Antonio übertragen worden. Die konzentrierte sämtliche Einheiten und Mittel an der mexikanischen Grenze, weil befürchtet wurde, Plünderer könnten in den Teil der Vereinigten Staaten einfallen, der unversehrt geblieben war. Trotzdem rechnete man damit, binnen eines Monats große Einheiten des übrigen Heeres anderen Aufgaben zuteilen zu können. Die Nationalgarde sollte bald zusammen mit Freiwilligen die Staaten in der Mitte des Landes durchkämmen. Weiter nördlich hielt man jedes Bemühen für zwecklos.

»Wärmequelle!«, rief Mike Guare plötzlich. Langsam drehte Bob sich zu ihm um. Mit den unförmigen Schuhen war man nicht allzu beweglich, und auf keinen Fall durfte man auf der 15 Meter tiefen Schneedecke ausrutschen. Man wusste nie, ob spitze Kanten darunter verborgen lagen, die einem die schlimmsten Wunden zufügen konnten. Die wenigen Antibiotika blieben lebensbedrohlichen Infektionen vorbehalten. Wer nicht gerade im Sterben lag, musste dieser Tage zusehen, wie er von selbst wieder auf die Beine kam.

So schnell er konnte, stellte sich Bob neben den jungen Piloten. »Da drinnen«, erklärte er.

Sie kletterten durch das Fenster in einen vom Schnee verschont gebliebenen Raum. Offenbar war er Teil eines Bekleidungsgeschäfts, denn Reihe um Reihe hingen von vereisten Gestellen Herrenanzüge herab. An Wandhaken waren noch Messbänder und Klemmbretter angebracht, und auf einem Pult in einer Nische kauerte eine verwaiste Computeranlage. Weiter hinten wirbelte Pulverschnee über den schwarz-grauen Linoleumboden.

Inzwischen hatten alle drei ihre Instrumente gezückt und wurden schnell fündig. Aus einem Wäschekorb voller Lumpen stieg Wärme empor. Hatte tatsächlich jemand darunter überlebt? Ein Kind vielleicht? Dr. William Hanks, ein Marinearzt, der nach Einsätzen in Grönland und der Antarktis mit der Behandlung von Frostbeulen vertraut war, trat näher heran. »Können Sie mich hören?«, rief er mit von seiner Skimaske gedämpfter Stimme.

Ihr Auftrag lautete, Opfer zu identifizieren, sie zu bergen, wenn möglich zu behandeln und die Suche fortzusetzen. Aber zuallererst mussten sie die jeweilige Person zu Gesicht bekommen. Vorsichtig zupfte Bob an der steif gefrorenen obersten Lumpenschicht. Sie ließ sich erstaunlich leicht lösen. Plötzlich gellte ein spitzes Kreischen durch den Raum, und irgendetwas flitzte los. Bill prallte erschrocken zurück, direkt gegen Mike, der vor Schreck aufschrie. Und dann sahen sie es. Auf der Schulter eines der Anzüge kauerte ein extrem abgemagertes, über alle Maßen empörtes Eichhörnchen.

»Muss aus dem Bryant Park sein«, brummte Mike, während das Tier sie aus seinen dunklen Augen misstrauisch anstarrte. Mike musste es wissen – er war in Manhattan aufgewachsen.

Sie gingen zurück ins Freie. Bob funkte den Fund ins Basislager, das auf der festen Schneedecke über dem Central Park, da wo die Sheep Meadow gewesen war, errichtet worden war. Von dort waren die Suchtrupps ausgeschwärmt, nachdem zwei Helikopter sie abgesetzt hatten. Mary Travis und der andere Pilot waren gerade dabei, Zelte aufzubauen, die Feldküche einzurichten und die Vorbereitungen für die Rückkehr der Trupps zu treffen.

»Zwei Uhr«, sagte Bill Hanks. Um vier Uhr sollten sie die Sixth Avenue erreicht haben und sich vorbei an den Hüllen der Wolkenkratzer wieder den anderen nähern. Sie freuten sich schon auf die wärmende Suppe. Bevor sie sich ausruhen durften, gab es allerdings noch einige Arbeit zu leisten. Zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehörten mehrere große Gebäude, darunter die Zentralbibliothek. Wenn es noch überlebende Flüchtlinge gab, so nahm man an, hatten sie sich in öffentlichen Gebäuden gesammelt. Die Notfallmaßnahmen hatten nicht mehr durchgeführt werden können, aber es war nicht auszuschließen, dass ein paar Leute mitbekommen hatten, dass dort während der zweiten Sturmwoche Lebensmittellager angelegt worden waren.

Als sie den Rückweg antraten, blieb Bill kurz stehen und ließ den Blick über die zugeschneite Stadt zum mächtigen Turm des Empire State Building schweifen. Bob folgte seinen Augen. Vor dem strahlenden Blau des Himmels wirkte das Gebäude unglaublich schön. Das Glas seiner Fenster mochte dunkel und geborsten, sein berühmter Funkturm verschwunden sein, aber es hatte sich gegen das Wüten des Sturms auf eine Weise behauptet, die in Bob ein Gefühl von Stolz und Entschlossenheit weckte.

Als Klimatologe kannte er die grausame Konsequenz dieser Situation nur zu gut. Falls die Schneemassen schmolzen, war die Stadt der Zerstörung durch eine Flut preisgegeben, wie sie noch kein Mensch erlebt hatte. Schmelzwasser aus dem bergigen Norden würde alles ertränken. Irgendwann würden die meisten Wolkenkratzer einstürzen, wenn ihre Fundamente von den gewaltigen Wassermassen fortgerissen wurden.

Blieb die Schmelze aus, würde das nächste Jahr mehr Schnee bringen, und das Jahr darauf noch viel größere Mengen. Es würde überhaupt nicht mehr aufhören zu schneien, nicht in der nächsten Zukunft und auch nicht in absehbarer Zeit.