Bob sah noch immer hinauf zum Empire State Building. Es hatte immer zum Hintergrund seiner Welt gehört, etwas, das man seinen Kindern zeigte, wenn man mit ihnen nach New York fuhr. Mehr hatte es ihm nicht bedeutet. Aber jetzt empfand er es als ein Heiligtum, das der Erinnerung der Menschheitsgeschichte gewidmet war.
Sie setzten ihren Weg fort und näherten sich der Bibliothek. Keiner rechnete damit, dass sie noch etwas Besonderes finden würden. Schnell gingen sie nicht – das war einfach nicht möglich. Jeder hatte vier Energieriegel dabei, ihre einzige Nahrung bis zur Rückkehr zum Lager. Als sie die Fifth Avenue erreichten, bogen sie in Richtung Norden ab. Ein Straßenplan und ein Computerausdruck erleichterten ihnen die Orientierung. So konnten sie sich stets in der Mitte der Straßen halten. Turmhohe Schneeverwehungen schmiegten sich gegen die Häuser, wenn sie sie nicht ganz zudeckten. Man kam sich vor wie in einer Hügellandschaft, aus der hier und dort Gruppen von Wolkenkratzern herausragten. Sich auf diese Verwehungen zu wagen wäre lebensgefährlich, konnte man doch in die Tiefe sinken bis hinab zu den Trümmern der darunter begrabenen Häuser.
Auch von der Bibliothek versprachen sie sich nichts. Bis auf Teile des Dachs und die oberen drei Meter der Säulenhalle lag sie unter den Schneemassen begraben.
Ihre Geräte meldeten keinerlei Spuren von Leben. Bob schaltete das Funkgerät ein. »Kein Erfolg an der Ecke Forty-second, Fifth Street. Bibliothek ist nur noch eine Ruine.«
Er holte tief Luft. Und blieb abrupt stehen. Dann schnüffelte er. »Jungs«, sagte er unvermittelt, »riech ich da vielleicht Rauch?«
Die anderen schnupperten nun ebenfalls. Bill nahm sogar seine Gesichtsmaske ab und schloss die Augen. Dann begegneten sich ihre Blicke. Worte waren nicht nötig.
Kaum hatten sich die drei Männer wieder in Bewegung gesetzt, sahen sie es direkt vor sich: eine dünne weiße Rauchfahne, die sich in den blauen Himmel kringelte. Sie beschleunigten ihre Schritte.
Vor dem wuchtigen Dach der Bibliothek stießen sie auf einen ausgetretenen Pfad, der von den Säulen bis ins Dunkel der Vorhalle führte. Die ganze Umgebung war verrußt. In den festgetretenen Schnee waren richtige Stufen gehauen worden.
Aufgeregt strebten sie darauf zu. Bob spürte, wie sein Herz immer schneller pochte. Er wollte schon hinter den Säulen nachsehen gehen.
»Bleib stehen«, zischte Bill.
Schlagartig besann sich Bob wieder auf seine militärische Ausbildung. Sie hatten Waffen, und jetzt war der richtige Moment, sie bereitzuhalten. Er öffnete den Parka, seine Hand wanderte zum Griff seiner Pistole. »Okay«, raunte er. »Gib mir Deckung, Bill. Und du hältst hier die Stellung, bis ich dich rufe, Mike.«
Während Mike zurückblieb, huschten Bob und Bill weiter in die Dunkelheit. Die Luft unter der mächtigen Steindecke wurde immer verrauchter. Bald war es so dunkel, dass sie ihre Nachtsichtbrillen aufsetzen und die Taschenlampen einschalten mussten.
»Hör nur«, flüsterte Mike.
Stimmen, und zwar viele, alle schrill und aufgeregt.
»Himmel«, murmelte Bob.
Sie gingen weiter. Vor ihnen tauchte ein zerborstenes Deckenfenster auf, dann das Innere der Bibliothek. Weiter unten flackerte Licht – ein kleines Feuer. Bob beugte sich vor. Ihm bot sich der wohl verblüffendste Anblick seit Ausbruch des Sturms, ja, seines ganzen Lebens. Auf dem Marmorboden des Stockwerks unter ihnen kauerten ungefähr zwanzig Kinder. Bei ihnen stand eine junge Frau. Sie waren alle total verschmutzt. Mit Büchern hatten sie ein Feuer entfacht, auf dem sie etwas kochten.
»Hey!«, rief Bob.
Schlagartig erstarb das Stimmengewirr. Alle Gesichter starrten nach oben. »Daddy!«, schrie eine piepsige Stimme. Mit einem Mal liefen alle Kinder auf die Leiter zu, die ihre Höhle mit der Außenwelt verband.
»Kinder!«, bellte die junge Frau. »Zurück!«
Sie blieben abrupt stehen. Dieses Mädchen hatte ihnen doch tatsächlich Gehorsam wie bei der Armee beigebracht.
»In Reih und Glied aufstellen!«, befahl sie. »Und zurück in den Lesesaal!«
»Im Lesesaal ist es doch so kalt, Schwester«, wimmerte ein Kind.
»Kein Widerspruch!«
Inzwischen war Bob unten angekommen. Die junge Frau näherte sich ihm zögernd. Ihre Augen wirkten in dem düsteren Licht riesig, ihr Gesicht war eingefallen, um ihre linke Hand hatte sie Lumpen gewickelt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Wir können Ihnen helfen«, erwiderte Bob sanft und zog sie behutsam an sich.
Sie brach in Tränen aus.
Als die Kinder sahen, dass ihre Lehrerin sich umarmen ließ, kamen sie langsam auf ihn zu. Es waren insgesamt 19, die ganze vierte Klasse der Saints Peter and Paul Elementary School in Far Rockaway. Sie hatten eine Klassenfahrt nach Manhattan unternommen, um etwas über Bibliotheken zu erfahren. Als der Schneesturm immer heftiger wurde und der Bus einfach nicht kam, hatte sie in der Schule angerufen. Man hatte sie aufgefordert zu warten; der Fahrer hätte gemeldet, er sei noch unterwegs.
Der Bus kam nicht mehr. Die Bibliothek leerte sich, bald waren sie dort ganz allein. Die Telefone fielen aus. Der Strom fiel aus. So ging sie mit den Kindern ins Restaurant auf der anderen Straßenseite und wartete dort. Dann funktionierte auch die Gasheizung nicht mehr. Als es zu kalt geworden war, hatte sie beschlossen, mit den Kindern in die Bibliothek zurückzukehren, wo sie wenigstens mit den Büchern heizen konnten.
Die junge Frau war Schwester Rita O’Connor und gehörte dem Orden Sisters of Divine Providence an. Seit Beginn des Sturms hatte keines ihrer Kinder seine Eltern erreichen können. Sie waren erschöpft und verängstigt, hatten Heimweh und froren entsetzlich. Eines der Kinder hatte eine Lungenentzündung, zwei hatten Frostbeulen, die Hand der Schwester war erfroren und, wie sie befürchtete, brandig.
Bill untersuchte sie sogleich. Nun, eine Gangrän war es nicht, aber schlimm sah es trotzdem aus.
Danach gaben sie ihre Entdeckung ans Basislager durch. Allem Anschein waren in New York doch nicht alle tot. Die anderen Teams meldeten ebenfalls, dass sie hier und dort Schlupflöcher gefunden hatten.
Die Einsatzzentrale in Quantico bestimmte, dass die Flüchtlinge, die als »überlebensfähig, aber auf medizinische Hilfe angewiesen« eingestuft wurden, zur Sheep Meadow transportiert werden sollten. Dort würde eine C-130 im Anschluss an einen ähnlichen Einsatz in Washington noch vor sechs Uhr eine Palette mit Zelten und drei Tagesrationen Lebensmitteln für 50 Personen abwerfen. Morgen sollten für die Arktis geeignete Schneeanzüge abgeworfen werden.
Für Schwester Rita und die vierte Klasse der Saints Peter and Paul endete so der letzte Schulausflug. Weinend ging sie neben Bob her. Die Hoffnung auf Hilfe hatte sie bereits aufgegeben. Was geschehen war, hatte sie noch nicht begriffen. Sie hatte die ganze Zeit geglaubt, der Blizzard sei auf New York beschränkt gewesen. Als sie erfuhr, wie viele Teile der Welt ebenfalls davon betroffen waren, blieb sie lange stumm.
Die Kinder verhielten sich außerordentlich diszipliniert. Alle halfen sich gegenseitig und auch Schwester Rita so gut sie konnten.