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»Erlauben Sie«, sagte er.

Und mit einer Hand ergriff er ihren Schal und zog ihn fest um ihre Schultern, so daß der Tausendfüßler nicht in ihr Mieder fallen konnte. Mit der anderen Hand - der rechten - faßte er in ihr Haar, packte das widerwärtige Scheusal so nah wie möglich hinter dem Kopf und hielt es fest zwischen Daumen und Zeigefinger, als er es aus ihrem Haar entfernte. Es war ein so furchtbarer und heldenhafter Anblick, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Mich überlief es kalt. Der Tausendfüßler, achtzehn Zentimeter krabbelnder Beine, wand, drehte und krümmte sich um seine Hand, schlang den Leib um Kersdales Finger, grub die Beine in seine Haut und zerkratzte ihn, als er versuchte, sich zu befreien. Das Tier biß ihn zweimal - ich habe es gesehen -, wenngleich er den Damen versicherte, daß er nicht verletzt sei, als er es auf den Weg fallen ließ und im Kies tottrat. Doch ich sah ihn fünf Minuten später im Sprechzimmer, wo Dr. Goodhue die Wunden aufschnitt und mit Kaliumpermanganat spülte. Am nächsten Morgen war Kersdales Arm so dick wie ein Faß, und es dauerte drei Wochen, ehe die Schwellung zurückging.

All das hat nichts mit meiner Geschichte zu tun, aber ich konnte nicht umhin, es zu erzählen, um zu zeigen, daß Jack Kersdale alles andere als ein Feigling war. Es war der schönste Beweis von Beherztheit, den ich je gesehen habe. Er zuckte nicht mit der Wimper. Das Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Und er fuhr mit Daumen und Zeigefinger so unbekümmert in Dottie Fairchilds Haar, als handelte es sich um eine Dose mit gesalzenen Mandeln. Und doch sollte ich es erleben, wie dieser Mann von einer Angst gepackt wurde, die tausendmal schrecklicher war als meine Angst angesichts dieses sich windenden Scheusals in Dottie Fairchilds Frisur, das über ihren Augen und dem Ausschnitt ihres Mieders baumelte.

Ich interessierte mich für Lepra, und wie über jedes andere die Insel betreffende Thema, besaß Kersdale auch hierüber umfassende Kenntnisse. Tatsächlich war die Lepra eines seiner Steckenpferde. Er war ein glühender Verfechter der Kolonie von Molokai, wo alle Aussätzigen der Inseln isoliert wurden. Unter den Eingeborenen gab es viele von Demagogen geschürte und emotionsgeladene Diskussionen über die Grausamkeiten auf Molokai, wo Männer und Frauen nicht nur von Freunden und Familie getrennt waren, sondern in aufgezwungener Isolation bis zu ihrem Tode leben mußten. Es gab keine Begnadigung, keine Revision des Urteils. »Laßt alle Hoffnung fahren«, stand über dem Tor von Molokai geschrieben.

»Ich sage Ihnen, sie sind dort glücklich«, behauptete Kersdale mit Nachdruck. »Und es geht ihnen unendlich viel besser als ihren Freunden und Verwandten anderswo, denen nichts fehlt. Diese Horrorgeschichten über Molokai sind nur dummes Zeug. Ich kann Sie durch ein beliebiges Krankenhaus oder Elendsviertel einer großen Weltstadt führen und Ihnen tausendmal Schlimmeres zeigen. Der lebendige Tod! Die Geschöpfe, die einst Menschen waren! Alles Unsinn! Sie sollten diese lebenden Toten einmal bei ihrem Pferderennen am vierten Juli, dem Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung, sehen. Einige von ihnen haben Boote. Einer besitzt sogar eine motorgetriebene Barkasse. Sie haben nichts anderes zu tun, als sich zu amüsieren. Nahrung, Unterkunft, Kleidung, ärztliche Betreuung, alles wird gestellt. Sie sind die Schutzbefohlenen des Staates. Das Klima ist viel besser als in Honolulu, und die Landschaft ist großartig. Ich selbst hätte nichts dagegen, den Rest meiner Tage dort zu verbringen. Es ist ein herrliches Fleckchen Erde.«

So sprach Kersdale über die fröhlichen Aussätzigen. Er fürchtete sich nicht vor der Lepra. Das waren seine eigenen Worte, und er sagte auch, daß die Chance, diese Krankheit zu bekommen, für ihn oder jeden anderen Weißen nicht einmal eins zu einer Million stünde, wenn er auch später einräumte, daß einer seiner Schulfreunde, Alfred Starter, sich angesteckt habe, nach Molokai geschickt worden und dort gestorben sei.

»Wissen Sie, in alten Zeiten«, erklärte Kersdale, »gab es noch keinen sicheren Lepratest. Irgend etwas Ungewöhnliches oder Abnormes an einem Menschen genügte damals, um ihn nach Molokai zu deportieren. Die Folge war, daß Dutzende von Leuten dorthin gebracht wurden, die ebensowenig vom Aussatz befallen waren wie Sie oder ich. Doch solch ein Irrtum kommt jetzt nicht mehr vor. Die Tests der Gesundheitsbehörde sind unfehlbar. Das Komische daran ist, daß sie damals, als dieser Test erfunden wurde, sofort nach Molokai fuhren und ihn anwandten und dabei eine ganze Reihe von Leuten entdeckten, die keine Lepra hatten. Diese wurden dann sofort von der Insel gebracht. Ob es sie froh stimmte wegzukommen? Beim Verlassen der Kolonie jammerten sie noch schlimmer als an jenem Tag, als sie von Honolulu aus dorthin verfrachtet worden waren. Einige weigerten sich zu gehen und mußten wirklich dazu gezwungen werden. Einer von ihnen heiratete sogar eine Aussätzige im letzten Krankheitsstadium und schrieb dann ergreifende Briefe an die Gesundheitsbehörde, in denen er gegen seine Ausweisung mit der Begründung protestierte, daß niemand so gut wie er für seine arme alte Frau sorgen könne.«

»Was ist das für ein unfehlbarer Test?« fragte ich.

»Der bakteriologische Test. Da kann sich niemand herausmogeln. Doktor Hervey - er ist unser Experte, müssen Sie wissen - hat ihn hier als erster angewandt. Er ist ein wahrer Zauberkünstler. Er weiß mehr über Lepra als jeder andere Sterbliche, und falls man je ein Heilmittel dafür finden sollte, dann wird er der Entdecker sein. Der Test selbst ist ganz einfach. Es ist ihnen gelungen, den Leprabazillus zu isolieren und genau zu untersuchen. Jetzt erkennen sie ihn, sobald sie ihn sehen. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als dem Verdächtigen ein Stückchen Haut abzuschnipseln und es dem bakteriologischen Test zu unterziehen. Ein Mensch ohne irgendwelche sichtbare Symptome kann voll von Leprabazillen sein.«

»Dann ist es also möglich, daß es in uns jetzt davon wimmelt, ohne daß wir die leiseste Ahnung haben?« meinte ich.

Kersdale zuckte mit den Achseln und lachte.

»Wer weiß das schon? Die Inkubationszeit beträgt sieben Jahre. Wenn Sie irgendwelche Zweifel haben, dann gehen Sie zu Doktor Hervey. Er wird Ihnen ein Stückchen Haut abschnipseln und sofort Bescheid geben.«

Später machte er mich mit Dr. Hervey bekannt, der mich mit Berichten der Gesundheitsbehörde und Broschüren zu diesem Thema überhäufte und mich mit nach Kalihi, der Aufnahmestation von Honolulu, hinausnahm, wo die Verdächtigen untersucht und erwiesenermaßen Leprakranke bis zur Überführung nach Molokai festgehalten werden. Diese Deportationen fanden etwa einmal im Monat statt. Die Aussätzigen wurden dann nach den letzten Abschiedsgrüßen an Bord eines kleinen Dampfers, der Noeau, gebracht und in die Kolonie abtransportiert.

Eines Nachmittags, ich saß gerade im Klub und schrieb Briefe, kam Jack Kersdale herein.

»Sie habe ich gesucht«, war seine Begrüßung. »Ich werde Ihnen den traurigsten Aspekt der ganzen Geschichte zeigen -das Wehklagen der Leprakranken, wenn sie nach Molokai abfahren. Die Noeau wird sie in ein paar Minuten an Bord nehmen. Aber ich warne Sie, lassen Sie sich nicht von Ihren Gefühlen überwältigen. So echt ihr Kummer auch sein mag, so würden sie doch in einem Jahr noch viel schlimmer jammern, falls die Gesundheitsbehörde versuchen sollte, sie wieder von Molokai fortzubringen. Wir haben gerade noch Zeit für einen Whisky-Soda. Ich habe eine Kutsche draußen. Wir sind in weniger als fünf Minuten am Kai unten.«

Wir fuhren also zum Kai. Etwa vierzig unglückselige Geschöpfe hockten mit ihren Matten, Decken und den verschiedensten Gepäckstücken auf der Landungsbrücke. Die Noeau war gerade angekommen und machte an einem Leichter fest, der zwischen ihr und dem Kai lag. Ein gewisser Mr. McVeigh, der Vorsteher der Kolonie, beaufsichtigte das Einschiffen, und ihm wurde ich vorgestellt, wie auch Dr. Georges, einem der Ärzte der Gesundheitsbehörde, dem ich bereits in Kalihi begegnet war. Die Aussätzigen waren eine traurige Schar. Die Gesichter der meisten sahen grauenvoll aus