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»Leb wohl, Jack! Leb wohl!«

Er hörte den Ruf und sah zu ihr hin. Nie wurde ein Mensch von so vernichtender Furcht übermannt. Er taumelte auf dem Steg, sein Gesicht wurde weiß bis zu den Haarwurzeln, und er schien einzuschrumpfen und in seinen Kleidern zusammenzufallen. Er warf die Hände empor und stöhnte: »Mein Gott! Mein Gott!« Dann bekam er sich mit großer Anstrengung wieder in die Gewalt.

»Leb wohl, Lucy! Leb wohl!« rief er.

Und er blieb auf dem Kai stehen und winkte ihr mit beiden Händen zu, bis die Noeau schon weit fort war und die an der Achterreling aufgereihten Gesichter verschwammen und ihre Konturen verloren.

»Ich dachte, Sie wüßten es«, sagte McVeigh, der ihn neugierig beobachtet hatte. »Gerade Sie hätten es doch wissen müssen. Ich dachte, daß Sie deshalb hier wären.«

»Jetzt weiß ich es«, entgegnete Kersdale mit ungeheurem Ernst. »Wo ist der Wagen?«

Schnell ging er - rannte beinahe - zu ihm hin. Ich mußte selbst fast laufen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Fahr zu Doktor Hervey«, befahl er dem Kutscher. »Fahr so schnell du kannst.«

Keuchend und nach Luft ringend ließ er sich in den Sitz fallen. Sein Gesicht war noch bleicher geworden. Er hatte die Lippen zusammengepreßt, und der Schweiß stand ihm auf Stirn und Oberlippe. Er schien von einer entsetzlichen Todesangst gepackt.

»Um Gottes willen, Martin, laß die Pferde laufen!« brach es plötzlich aus ihm heraus. »Gib ihnen die Peitsche! - Hörst du? - Gib ihnen die Peitsche!«

»Sie werden durchgehen, Sir«, wandte der Kutscher ein. »Und wenn schon«, erwiderte Kersdale. »Ich werde deine Geldbuße zahlen und die Sache mit der Polizei regeln. Gib’s ihnen. So ist es recht. Schneller! Schneller!«

»Und ich habe nichts gewußt, nichts gewußt«, murmelte er, als er auf den Sitz zurücksank und sich mit zitternden Händen den Schweiß abwischte.

Die Kutsche schüttelte uns durch, schwankte und bog in so rasendem Tempo um die Ecken, daß eine Unterhaltung unmöglich war. Und es gab ja auch nichts zu sagen. Aber immer wieder hörte ich ihn murmeln: »Und ich habe nichts gewußt, ich habe nichts gewußt.«

CHUN AH CHUN

Es war nichts Auffallendes an der äußeren Erscheinung Chun Ah Chuns. Er war, wie die meisten Chinesen, ziemlich klein, hatte die für Chinesen typischen schmalen Schultern und ihren hageren Körper. Der Durchschnittstourist, der ihn zufällig auf den Straßen Honolulus sah, würde ihn für einen freundlichen kleinen Chinesen, vermutlich den Besitzer einer gutgehenden Wäscherei oder Schneiderwerkstatt gehalten haben. Was Freundlichkeit und Wohlstand angeht, wäre das Urteil richtig, aber trotzdem nicht ganz zutreffend gewesen, denn Ah Chun war nicht weniger freundlich als wohlhabend, nur - wie wohlhabend er tatsächlich war, darüber wußte kein Mensch auch nur annähernd Bescheid. Es war zwar allgemein bekannt, daß er enorm reich sein mußte, aber in seinem Fall stand die Bezeichnung »enorm« nur als Symbol für das Unbekannte.

Ah Chun hatte kluge Äuglein, schwarze, glänzende Knöpfe, und so winzig, daß sie Bohrlöchern glichen. Aber sie standen weit auseinander und wurden von einer Stirn überwölbt, die ganz offensichtlich die Stirn eines Denkers war. Denn Ah Chun hatte seine Probleme, und er hatte sie sein ganzes Leben lang gehabt. Trotzdem hatte er sich deswegen nie Sorgen gemacht. Er war von seinem Wesen her ein Philosoph, und seine innere Ausgeglichenheit blieb bestehen, ob er nun Kuli oder Multimillionär und Herr über viele Menschen war. Er führte stets ein von heiterem Gleichmut, seelischer Harmonie und Ruhe bestimmtes Leben, das weder durch Glück noch durch Unglück erschüttert werden konnte. Alle Dinge wendeten sich bei ihm zum Guten, ob es die Schläge des Aufsehers in den Zuckerrohrfeldern waren oder der Preisverfall auf dem Zuckermarkt, als diese Felder schon ihm gehörten. Und so meisterte er von dem festverankerten Fels seiner sicheren Zufriedenheit aus schwierige Aufgaben, wie sie nur wenige Menschen, und fraglos kein anderer chinesischer Bauer, zu lösen haben.

Und genau das war er - ein chinesischer Bauer, dazu geboren, sein Leben lang wie ein Tier auf den Feldern zu rackern, aber vom Schicksal ausersehen, den Feldern zu entkommen wie der Prinz im Märchen. Ah Chun erinnerte sich nicht an seinen Vater, einen kleinen Bauern in der Gegend von Kanton, auch nicht an seine Mutter, die starb, als er sechs Jahre alt war. Doch an seinen angesehenen Onkel erinnerte er sich gut, denn ihm hatte er von seinem sechsten bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr als Sklave gedient. Aus diesem Dasein floh er dann, indem er sich drei Jahre lang als Kuli verdingte, um für fünfzig Cents am Tag auf den Zuckerrohrplantagen Hawaiis zu arbeiten.

Ah Chun war ein aufmerksamer Beobachter. Er nahm Kleinigkeiten wahr, die unter Tausenden kein einziger je bemerkte. Drei Jahre lang arbeitete er auf den Feldern, danach verstand er mehr vom Zuckerrohranbau als die Aufseher oder selbst der Inspektor, und dieser wiederum wäre erstaunt gewesen über die Kenntnisse, die der schmächtige Kuli über die Verarbeitungsvorgänge in der Mühle besaß. Aber Ah Chun studierte nicht nur die Zuckerverarbeitung. Er versuchte herauszufinden, wie manche es fertigbrachten, selbst Besitzer von Zuckermühlen und Plantagen zu werden. Zu einem Schluß gelangte er bald, nämlich daß man nicht durch seiner eigenen Hände Arbeit reich wurde. Das wußte er genau, denn er selbst hatte sich zwanzig Jahre lang abgerackert. Leute, die reich wurden, wurden es durch die Arbeit der Hände anderer. Der Mann war am reichsten, der die größte Anzahl seiner Mitmenschen für sich schuften ließ.

Als sein Kontrakt abgelaufen war, steckte Ah Chun daher seine Ersparnisse in ein kleines Importgeschäft und tat sich mit einem gewissen Ah Yung zusammen. Das Unternehmen wurde schließlich die große Firma »Ah Chun & Ah Yung«, die mit allem, von indischer Seide und Ginseng bis hin zu GuanoInseln und Briggs für die Arbeiterwerber, Handel trieb. In der Zwischenzeit verdingte Ah Chun sich als Koch. Er war ein guter Koch, und nach drei Jahren war er der bestbezahlte Küchenchef von Honolulu. Seine Zukunft war gesichert, und er war ein Narr, das aufzugeben, wie Dantin, sein Arbeitgeber, ihm sagte; aber Ah Chun wußte selbst am besten, was er wollte, und dafür wurde er ein dreifacher Narr geheißen und erhielt, zusätzlich zu dem Lohn, der ihm zustand, noch ein Geschenk von fünfzig Dollar.

Die Firma von Ah Chun & Ah Yung blühte und gedieh. Ah Chun brauchte nicht mehr als Koch zu arbeiten. Es waren Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs auf Hawaii. Zuckerrohr wurde im großen Stil angebaut, und dazu benötigte man Arbeitskräfte. Ah Chun witterte seine Chance und verlegte sich auf die Einfuhr von Arbeitern. Er brachte Tausende von kantonesischen Kulis nach Hawaii, und sein Reichtum begann zu wachsen. Er legte das Geld an. Seine schwarzen Knopfaugen entdeckten dort gute Geschäfte, wo andere Leute nur den Bankrott sahen. Für ein Butterbrot kaufte er einen Fischteich, der ihm später fünfhundert Prozent Gewinn einbrachte und der den ersten Schritt zur Monopolisierung des Fischhandels von Honolulu darstellte. Er trat weder öffentlich in Erscheinung, noch spielte er in der Politik eine Rolle oder mischte bei Revolutionen mit, sah aber Ereignisse klarer und früher voraus als selbst die Männer, die die Dinge dann in Gang brachten. Vor seinem geistigen Auge erschien Honolulu als eine moderne Stadt mit elektrischer Beleuchtung, und das zu einer Zeit, als es sich noch verwahrlost und versandet auf einem öden, aus dem Wasser ragenden Korallenriff ausbreitete. Also kaufte er Land. Er erwarb Grundstücke von Kaufleuten, die schnell Bargeld brauchten, von mittellosen Eingeborenen, von den in Saus und Braus lebenden Söhnen von Händlern, von Witwen und Waisen und von den Aussätzigen, die nach Molokai deportiert wurden. Und irgendwie stellte es sich im Lauf der Zeit heraus, daß die Grundstücke, die er erstanden hatte, für Warenhäuser, Bürogebäude oder Hotels benötigt wurden. Er pachtete und mietete, verkaufte und kaufte und verkaufte wieder.