Dieses Problem brachte ihn jedoch nicht aus seiner Ruhe. Er wußte in seiner philosophischen Seele, daß er es lösen würde, sobald die Zeit dafür reif war. Unterdessen erteilte er seiner Familie die Lektion, daß er trotz seiner Nachgiebigkeit doch der absolute Herrscher über das Geschick der Achuns war. Die Familie hielt eine Woche durch, kehrte dann aber, zusammen mit Ah Chun und der großen Dienerschaft, wieder in den Bungalow zurück. Und von da an gab es keinerlei Debatten mehr, wenn es Ah Chun einfiel, seinen prachtvollen Salon im blauseidenen Gewand, mit wattierten Pantoffeln und schwarzem, mit einem roten Knopf verzierten Seidenkäppchen zu betreten, oder wenn er auf einer der breiten Veranden oder im Herrenzimmer mitten unter den Zigaretten und Zigarren rauchenden Offizieren und Zivilisten lieber an seiner langen, schlanken Pfeife mit dem Silberkopf zog.
Ah Chun hatte in Honolulu eine einzigartige Stellung inne. Obwohl er nicht am Gesellschaftsleben teilnahm, war er doch überall gern gesehen. Abgesehen von seinen Besuchen bei den chinesischen Kaufleuten der Stadt, ging er niemals aus. Doch er empfing gerne Gäste und war stets der Mittelpunkt seines Haushalts und führte den Vorsitz an der Tafel. Obgleich als chinesischer Bauer geboren, herrschte bei ihm doch eine von Kultur und Eleganz erfüllte Atmosphäre, die nirgendwo auf den Inseln überboten wurde. Auch gab es niemanden, der zu stolz gewesen wäre, über seine Schwelle zu treten und seine Gastfreundschaft zu genießen. Vor allem herrschte im Achunschen Bungalow ein tadelloser Ton. Zudem besaß Ah Chun Macht. Und schließlich war Ah Chun ein Ausbund der Tugend und ein ehrlicher Geschäftsmann. Trotz der Tatsache, daß die Geschäftsmoral auf den Inseln an sich schon höher war als auf dem Festland, übertraf Ah Chun die Geschäftsleute von Honolulu noch an Gewissenhaftigkeit und unbeugsamer Redlichkeit. Es hieß allgemein, daß sein Wort ebenso gut sei wie ein von ihm signierter Schuldschein. Man brauchte, um ihn zu verpflichten, keineswegs seine Unterschrift. Er brach sein Wort nie. Zwanzig Jahre, nachdem Hotchkiss von der Hotchkiss-Morterson-Gesellschaft gestorben war, fand man unter verlegten Papieren einen kurzen Vermerk über ein Darlehen an Ah Chun von dreißigtausend Dollar. Das war zu einer Zeit gewesen, als Ah Chun Geheimer Rat bei Kamehameha II. war. In der Geschäftigkeit und dem Tumult dieser Blütezeit, dieser Tage des großen Geldes, war die Sache dem Gedächtnis Ah Chuns entfallen. Es gab keinen Schuldschein, keine rechtsgültigen Dokumente, doch er beglich den Hotchkiss-Erben ihre Forderung vollständig und zahlte noch freiwillig die Zinseszinsen, die den ursprünglichen Betrag lächerlich gering erscheinen ließen. Ebenso ging es, als er für das unselige Kakiku-Kanalisierungsprojekt zu einer Zeit eine mündliche Garantieerklärung abgab, als selbst der Vorsichtigste sich nicht träumen ließ, daß eine Bürgschaft nötig sei. »Er unterschrieb einen Scheck über mehr als zweihunderttausend, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Herren, ohne mit der Wimper zu zucken«, berichtete der Sekretär dieses bankrotten Unternehmens, den man in der fast aussichtslosen Hoffnung, etwas über Ah Chuns Absichten in Erfahrung zu bringen, vorgeschickt hatte. Zu all dem und vielen ähnlichen Fällen, in denen er sein Wort gehalten hatte, kam noch, daß es kaum einen angesehenen Mann auf den Inseln gab, dem Ah Chun nicht bei irgendeiner Gelegenheit finanzielle Unterstützung gewährt hätte.
Kein Wunder, daß ganz Honolulu beobachtete, wie sich seine wundervolle Familie zu einem umfassenden Problem auswuchs, und man ihn insgeheim bedauerte, denn keiner konnte sich vorstellen, wie er damit fertigwerden wollte. Aber Ah Chun sah das Problem klarer als alle anderen. Niemand wußte so gut wie er selbst, in welchem Maße er als Fremder in seiner eigenen Familie lebte. Und die Familienangehörigen ahnten es nicht einmal. Er erkannte, daß für ihn kein Platz mehr war inmitten der wunderbaren Saat seiner Lenden, und er blickte voraus auf die Jahre, die ihm noch blieben, und wußte, daß er ihnen immer fremder werden würde. Er begriff seine Kinder nicht. Ihre Unterhaltung drehte sich um Dinge, die ihn nicht interessierten und von denen er nichts verstand. Die Kultur des Westens war an ihm vorbeigegangen. Er war Asiate bis in die letzte Faser, was wiederum bedeutete, daß er ein Heide war. Ihr Christentum war für ihn reiner Humbug. Aber all das würde er als etwas Unwesentliches und Unbedeutendes beiseite gewischt haben, hätte er sich nur in die jungen Leute selbst hineinversetzen können. Sagte Maud zum Beispiel, daß der Haushalt im Monat dreißigtausend kostete - so verstand er das, wie er auch Alberts Bitte um fünftausend Dollar verstand, mit denen er den Schoner Muriel kaufen und Mitglied des hawaiischen Jachtclubs werden wollte. Doch es waren ihre indirekteren, komplizierteren Wünsche und Denkweisen, die ihn verwirrten. Er entdeckte bald, daß die Gedankenwelt jedes Sohnes und jeder Tochter ein geheimes Labyrinth war, in das vorzudringen er nie hoffen durfte. Immer wieder stieß er auf die Wand, die den Osten vom Westen trennt. Er fand keinen Zugang zu ihrer Seele, und daher wußte er, daß auch sie keinen Zugang zu seiner Seele fanden.
Außerdem stellte er fest, daß er sich mit zunehmendem Alter immer mehr zu seiner eigenen Rasse hingezogen fühlte. Die starken Gerüche des Chinesenviertels waren aromatische Düfte für ihn. Er sog sie voller Wohlbehagen ein, wenn er durch die Straßen ging, führten sie ihn doch in Gedanken in die engen, winkeligen Gassen Kantons zurück, wo es von buntem Leben und Treiben nur so wimmelte. Er bedauerte, daß er seinen Zopf abgeschnitten hatte, um Stella Allendale in der Zeit vor ihrer Hochzeit zu gefallen, und erwog ernsthaft, ob er sich nicht den Schädel rasieren und einen neuen Zopf wachsen lassen sollte. Die Speisen, die sein hochbezahlter Chefkoch ihm bereitete, konnten seinen Gaumen nicht auf dieselbe Weise kitzeln wie die eigenartigen Gerichte in dem stickigen Restaurant unten im Chinesenviertel. Ein halbes Stündchen lang mit zwei oder drei alten chinesischen Freunden zu rauchen und zu plaudern bereitete ihm viel mehr Vergnügen, als den Vorsitz bei den üppigen und eleganten Abendeinladungen zu führen, für die sein Haus berühmt war und bei denen die Spitzen der amerikanischen und europäischen Gesellschaft, Herren und Damen nebeneinander, an seiner langen Tafel saßen - die Damen mit Juwelen geschmückt, die in dem gedämpften Licht auf ihren weißen Dekolletes und Armen funkelten, die Herren im Abendanzug. Und alle plauderten und lachten über Themen und scherzhafte Bemerkungen, die zwar nicht unbedingt böhmische Dörfer für ihn waren, ihn aber nicht interessierten und auch nicht amüsierten.
Aber das Problem war nicht nur sein Gefühl des Fremdseins und sein immer größer werdender Wunsch, zu seinen chinesischen Fleischtöpfen zurückzukehren. Da war auch noch sein Reichtum. Er hatte sich auf ein friedliches Alter gefreut. Er hatte schließlich schwer gearbeitet. Dafür sollte er eigentlich mit Ruhe und Frieden belohnt werden. Aber er wußte, daß ihm bei einem so ungeheuer großen Vermögen Ruhe und Frieden nicht zuteil werden würde. Dafür gab es bereits gewisse Anzeichen und Hinweise. Ähnliche Schwierigkeiten hatte er früher schon mitbekommen. Da war sein alter Arbeitgeber, Dantin, dessen Kinder ihm durch ordentlichen Gerichtsbeschluß des Verfügungsrechts über seinen Besitz beraubt hatten, indem sie ihn unter Vormundschaft stellen ließen. Ah Chun wußte, und wußte sehr wohl, daß man Dantin, wäre er ein armer Mann gewesen, für zurechnungsfähig genug gehalten hätte, um seine eigenen Angelegenheiten zu regeln. Und der alte Dantin hatte nur drei Kinder und eine halbe Million, während er, Chun Ah Chun, fünfzehn Kinder und, keiner außer ihm wußte, wieviele Millionen besaß.