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»Wir wollen niemandem Ärger machen«, begann er. »Wir verlangen nur, daß man uns in Frieden läßt. Lassen sie uns aber nicht in Frieden, dann sollen sie ihren Ärger bekommen und haben sich das selbst zuzuschreiben. Meine Finger sind nicht mehr da, wie ihr seht.« Er hielt seine Handstümpfe hoch, damit es alle sehen konnten. »Aber das Glied eines Daumens ist mir noch geblieben, und mit dem kann ich einen Gewehrabzug ebenso sicher betätigen, wie früher mit dem verlorenen Nachbarfinger. Wir lieben Kauai. Laßt uns hier leben oder hier sterben, aber laßt uns nicht ins Gefängnis von Molokai gehen. Es ist nicht unsere Krankheit. Wir haben nicht gesündigt. Die Männer, die das Wort Gottes und das Evangelium des Rums predigten, brachten die Krankheit mit den Kulis, die das gestohlene Land bearbeiten. Ich bin Richter gewesen. Ich kenne das Gesetz und die Gerechtigkeit, und ich sage euch, daß es Unrecht ist, einem Mann das Land zu stehlen, ihm die chinesische Krankheit anzuhängen und dann diesen Mann auf Lebenszeit ins Gefängnis zu sperren.«

»Das Leben ist kurz, und die Tage sind voller Schmerzen«, sagte Koolau. »Laßt uns trinken und tanzen und so glücklich wie möglich sein.«

Aus einer der Felsenhöhlen wurden Kalebassen gebracht und herumgereicht. Sie waren mit dem scharfen Destillat aus den Wurzeln der Ti-Pflanze gefüllt; und als das flüssige Feuer sie durchströmte und ihnen zu Kopf stieg, vergaßen sie, daß sie einst Männer und Frauen gewesen waren, denn sie wurden es wieder. Das Geschöpf, das heiße Tränen aus offenen Augenhöhlen weinte, verwandelte sich wirklich in eine lebensvolle Frau, als sie die Saiten eines Ukulele zupfte und einem wilden Liebeswerben ihre Stimme lieh, wie es einst aus den dunklen Tiefen eines vorzeitlichen Urwaldes aufgestiegen sein mochte. Sogar die Luft schwang mit bei ihrem unwiderstehlichen und verführerischen Gesang. Auf einer Matte tanzte Kiloliana nach dem Rhythmus des Liedes, das die Frau sang. Was er tanzte, war unverkennbar. Liebe sprach aus all seinen Bewegungen, und zu ihm gesellte sich eine Frau, deren volle Hüften und üppige Brüste ihr von der Krankheit zerfressenes Gesicht Lügen straften, und tanzte mit ihm. Es war ein Tanz lebender Leichname, denn in ihren verwesenden Körpern liebte und sehnte sich immer noch das Leben. Unentwegt sang die Frau, deren blinde Augen heiße Tränen weinten, ihr Liebeslied, unentwegt gaben die Tanzenden in der warmen Nacht ihrer Liebe Ausdruck, unentwegt kreisten die Kalebassen, bis in jedem Hirn die Maden der Erinnerung und des Verlangens sich zu regen begannen. Und mit der Frau auf der Matte tanzte ein schlankes junges Mädchen, dessen Gesicht schön und unversehrt war. Die verkrümmten Arme jedoch, die sich hoben und senkten, zeigten die Verwüstungen der Krankheit. Und abseits tanzten die beiden Idioten, plappernd und seltsame Laute ausstoßend, grotesk und phantastisch ihr Zerrbild der Liebe, so wie sie selbst durch das Leben zu Zerrbildern geworden waren.

Doch abrupt brach das Liebeslied der Frau ab, die Kalebassen wurden gesenkt, und die Tänzer hielten inne, während alle in den Abgrund über dem Meer blickten, wo eine Rakete wie ein bleiches Phantom in der mondhellen Nacht aufflackerte.

»Das sind die Soldaten«, sagte Koolau. »Morgen wird es zum Kampf kommen. Es ist gut, wenn wir jetzt schlafen, um gerüstet zu sein.«

Die Aussätzigen gehorchten und krochen zu ihren Felsenlagern, bis nur noch Koolau übrigblieb, der mit dem Gewehr über den Knien reglos im Mondlicht saß und seinen Blick nicht von den tief unten am Strand anlegenden Booten abwendete.

Der obere Teil des Kalalau-Tales war ein gut gewählter Zufluchtsort. Mit Ausnahme von Kiloliana, der die Schleichwege über die Steilwände kannte, konnte kein Mensch in die Schlucht gelangen, ohne einen messerscharfen Grat zu überqueren. Dieses Wegstück war etwa neunzig Meter lang, und seine breiteste Stelle betrug höchstens dreißig Zentimeter. Zu beiden Seiten gähnte der Abgrund. Ein Fehltritt, und man stürzte rechts oder links in den Tod. Doch wem es geglückt war, mit heiler Haut hinüberzugelangen, der fand sich in einem Paradies auf Erden wieder. Ein Meer von Vegetation überflutete die Landschaft, ergoß seine grünen Wogen von Wand zu Wand, troff in üppigen Rankenmassen von den Klippenrändern herab und schleuderte eine Gischt von Farnen und Luftwurzeln in die unzähligen Risse und Spalten. In den vielen Monaten von Koolaus Herrschaft hatten er und seine Gefolgsleute gegen dieses Pflanzenmeer angekämpft. Der erstickende Dschungel mit seinem Blütengewirr war von wildwachsenden Bananen, Orangen und Mangos zurückgedrängt worden. Auf kleinen Lichtungen gedieh wilde Pfeilwurz; auf Steinterrassen, die mit mühsam zusammengekratzter Erde aufgefüllt waren, wurden Taro und Melonen angebaut, und auf jedem freien Fleckchen, wohin die Sonne drang, gab es die mit goldgelben Früchten beladenen Papaya-Bäume.

Koolau war aus dem tiefergelegenen Tal in der Nähe des Strandes hierher abgedrängt worden. Und sollte er auch von diesem Zufluchtsort vertrieben werden, dann kannte er Schluchten in dem Gewirr der Bergspitzen weiter landeinwärts, wohin er seine Untertanen führen und wo er sich niederlassen konnte. Und jetzt lag er da, sein Gewehr neben sich, und spähte durch ein verfilztes Laubgeflecht zu den Soldaten am Strand hinunter. Er bemerkte, daß sie große Geschütze bei sich hatten, die das Sonnenlicht wie Spiegel reflektierten. Der messerscharfe Paß lag genau vor ihm. Auf dem Pfad, der zu ihm hinaufführte, konnte er winzige Punkte kriechen sehen. Er wußte, daß es nicht das Militär, sondern die Polizei war. Hatte sie keinen Erfolg, dann würden sich die Soldaten einmischen.

Liebevoll strich er mit seiner verkrüppelten Hand über den Gewehrlauf und vergewisserte sich, daß das Visier sauber war. Er hatte als Jäger auf Niihau schießen gelernt, und seine Fertigkeiten als Scharfschütze blieben auf dieser Insel unvergessen. Als die Menschenpunkte sich näher heranarbeiteten und größer wurden, schätzte er die Entfernung, die Abdrift durch den Wind, der im rechten Winkel zur Schußlinie wehte, und die Wahrscheinlichkeit ab, über Ziele, die so weit unterhalb seines Standortes lagen, hinwegzuschießen. Aber er feuerte nicht. Erst als sie den Anfang des Passes erreicht hatten, machte er sich bemerkbar. Er zeigte sich ihnen nicht, sondern redete aus dem Dickicht heraus.

»Was wollt ihr?« fragte er.

»Wir wollen Koolau, den Aussätzigen«, antwortete der Mann, der die eingeborenen Polizisten anführte, er selbst ein blauäugiger Amerikaner.

»Ihr müßt umkehren«, sagte Koolau.

Er kannte den Mann, einen Hilfssheriff, denn er war es gewesen, der ihn von Niihau vertrieben, über ganz Kauai bis zum Kalalau-Tal und aus dem Tal bis in die Schlucht gejagt hatte.

»Wer bist du?« fragte der Sheriff.

»Ich bin Koolau, der Aussätzige«, lautete die Antwort.

»Dann komm heraus. Du wirst gesucht. Tot oder lebendig. Es sind tausend Dollar auf deinen Kopf ausgesetzt. Du kannst uns nicht entkommen.«

Koolau lachte laut in seinem Dickicht.

»Komm heraus!« befahl der Sheriff, erhielt aber nur Schweigen zur Antwort.

Er beriet sich mit seinen Polizisten, und Koolau sah, daß sie ihn überrumpeln wollten.

»Koolau«, rief der Sheriff, »Koolau, ich komme jetzt rüber, um dich zu holen.«

»Dann schau dir vorher die Sonne und das Meer und den Himmel genau an, denn das wird das letzte Mal sein, daß du sie siehst.« »Schon gut, Koolau«, sagte der Sheriff beschwichtigend. »Ich weiß, daß du ein erstklassiger Schütze bist, aber du wirst mich doch nicht erschießen. Ich habe dir nie ein Unrecht zugefügt.«

Koolau in seinem Gebüsch brummte nur.