Draußen fand Koolau seine Leute in panischer Angst vor; sie waren schon im Begriff, den Ziegenpfad hinaufzuklettern, der aus der Schlucht in das Gewirr von Bergen und Klüften führte. Der verwundete Idiot, der leise vor sich hin wimmerte und sich kraftlos mit den Händen über den Boden schleppte, versuchte, ihnen zu folgen. Doch bei dem ersten Steilstück der Felswand überwältigte ihn seine Hilflosigkeit, und er fiel zurück.
»Es wäre besser, ihn zu töten«, sagte Koolau zu Kapahei, der immer noch am selben Platz saß.
»Zweiundzwanzig«, antwortete Kapahei. »Ja, es wäre das Beste, ihn zu töten. Dreiundzwanzig - vierundzwanzig.«
Der Idiot wimmerte durchdringend, als er das Gewehr auf sich gerichtet sah. Koolau zögerte, dann ließ er die Waffe sinken.
»Es fällt mir schwer«, meinte er.
»Du bist ein Narr, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig«, sagte Kapahei. »Komm, ich zeig’s dir.«
Er stand auf und näherte sich der verwundeten Kreatur mit einem schweren Felsbrocken in der Hand. Als er den Arm hob, um zuzuschlagen, explodierte eine Granate genau über ihm. Sie befreite ihn so von der Notwendigkeit, die Tat auszuführen, und machte gleichzeitig dem Mitzählen ein Ende.
Koolau war allein in der Schlucht. Er sah zu, wie die letzten seiner Leute ihre verkrüppelten Leiber über den Bergkamm schleppten und verschwanden. Dann drehte er sich um und ging zu dem Dickicht hinunter, wo das Mädchen getötet worden war. Das Granatfeuer hielt unvermindert an, aber er blieb, denn tief unten konnte er die Soldaten heraufklettern sehen. Eine Granate explodierte sechs Meter von ihm entfernt. Er preßte sich flach auf den Boden und hörte den Splitterhagel über seinen Körper hinwegsausen. Ein Schauer von HauBlüten regnete auf ihn herab. Er hob den Kopf, um zu dem Pfad hinunterzuspähen und seufzte. Er fürchtete sich sehr. Gewehrkugeln hätten ihn nicht geängstigt, doch dieses Granatfeuer war schrecklich. Jedesmal, wenn ein Geschoß vorbeipfiff, durchfuhr ihn ein Schaudern, und er duckte sich; aber jedesmal hob er wieder den Kopf, um den Pfad zu beobachten.
Schließlich hörte der Beschuß auf. Das, so nahm er an, lag daran, daß die Soldaten immer näher kamen. Im Gänsemarsch krochen sie den Pfad entlang, und er versuchte, sie zu zählen, bis er durcheinander geriet. Auf alle Fälle waren es mindestens um die hundert - und alle hatten es auf Koolau, den Aussätzigen, abgesehen. Er fühlte einen Anflug von Stolz in sich aufsteigen. Mit Kriegsgeschütz und Gewehren, Polizeiaufgebot und Soldaten jagten sie ihn, und er war nur ein einzelner Mann, ein verkrüppeltes Wrack von einem Mann obendrein. Sie boten tausend Dollar für ihn, tot oder lebendig. In seinem ganzen Leben hatte er nicht so viel Geld besessen. Dieser Gedanke war bitter. Kapahei hatte recht gehabt. Er, Koolau, hatte nie etwas Böses getan. Nur weil die Haoles Arbeitskräfte brauchten, um das gestohlene Land zu bestellen, hatten sie die chinesischen Kulis hergebracht, und mit ihnen war die Krankheit gekommen. Und weil er sich mit dieser Krankheit angesteckt hatte, war er auf einmal tausend Dollar wert - die aber nicht ihm gehören sollten. Es war sein wertloser Kadaver, sein von der Krankheit zerfressener oder von einer explodierenden Granate zerrissener Körper, der all das Geld aufwog.
Als die Soldaten den schmalen Grat erreichten, fühlte er sich versucht, sie zu warnen. Doch dann fiel sein Blick auf die Leiche des gemordeten Mädchens, und er schwieg. Als sich sechs auf die Felsspitze gewagt hatten, eröffnete er das Feuer. Und er hörte auch nicht auf, als der Grat gesäubert war. Er leerte sein Magazin, füllte und leerte es wieder. Er schoß immer weiter. Alles Unrecht, das ihm widerfahren war, loderte in seinem Gehirn auf, und er raste vor Rachedurst. Den ganzen Ziegenpfad entlang feuerten die Soldaten, und obwohl sie flach auf der Erde lagen und hinter den Bodenwellen Deckung suchten, boten sie sich ihm dar wie Zielscheiben. Kugeln pfiffen und schlugen um ihn herum ein, und hier und da surrte ein Querschläger durch die Luft. Eine Kugel hinterließ eine Furche in seiner Kopfhaut, und eine zweite streifte das Schulterblatt, ohne ihn nennenswert zu verletzen.
Es war ein Massaker, bei dem nur ein einziger Mann tötete. Die Soldaten begannen sich zurückzuziehen und versuchten, ihre Verwundeten zu bergen. Während Koolau sie einzeln abschoß, nahm er den Geruch von verbranntem Fleisch wahr. Er sah sich erst um und entdeckte dann, daß es seine eigenen Hände waren. Das Gewehr war heiß geworden. Die Lepra hatte die meisten Nerven in seinen Händen zerstört. Zwar verbrannte sein Fleisch, und er roch es auch, doch er fühlte nichts.
Er lag im Dickicht und lächelte, bis ihm die Kanonen einfielen. Zweifellos würden sie wieder auf ihn zielen, und diesmal genau auf das Gebüsch, von wo aus er das Unheil angerichtet hatte. Kaum hatte er seine Stellung gewechselt und sich in einen geschützten Winkel hinter einem kleinen Felsvorsprung zurückgezogen, weil dort, wie er bemerkt hatte, keine Granaten einschlugen, da setzte das Bombardement wieder ein. Er zählte die Geschosse. Noch weitere sechzig wurden in die Schlucht gefeuert, bevor die Geschütze schwiegen. Das kleine Fleckchen Erde war von den Explosionen ganz durchlöchert worden, und es schien unmöglich, daß irgendein Geschöpf das überlebt haben könnte. Der Ansicht waren auch die Soldaten, denn unter der sengenden Nachmittagssonne kletterten sie wieder den Ziegenpfad herauf. Und wieder wurde ihnen der Übergang über den messerscharfen Grat verwehrt, und wieder mußten sie den Rückzug zum Strand antreten.
Noch zwei Tage lang hielt Koolau den Paß, obwohl sich die Soldaten damit begnügten, Granaten in sein Versteck zu feuern. Dann erschien Pahau, ein aussätziger Junge, auf der Felswand am Ende der Schlucht und rief zu ihm hinunter, daß Kiloliana, als er Ziegen jagte, damit sie etwas zu essen bekämen, abgestürzt und dabei umgekommen sei und daß die Frauen sich fürchteten und nicht wüßten, was sie tun sollten. Koolau rief den Jungen zu sich herunter und ließ ihn mit einem Reservegewehr zurück, um den Grat zu bewachen. Er fand seine Leute entmutigt vor. Die meisten von ihnen waren zu hilflos, um sich unter solch widrigen Umständen selbst mit Nahrung zu versorgen, und alle hatten Hunger. Er wählte zwei Frauen und einen Mann aus, bei denen die Krankheit noch nicht soweit fortgeschritten war, und schickte sie zur Schlucht zurück, um Nahrungsmittel und Matten zu holen. Den übrigen sprach er Mut und Trost zu, bis selbst die Schwächsten dabei halfen, einfache Schutzhütten zu bauen.
Doch jene, die Nahrung holen sollten, kamen nicht zurück, und so machte er sich wieder auf den Weg in die Schlucht. Als er zum Rand der Felswand kam, gingen ein halbes Dutzend Gewehre auf einmal los. Eine Kugel brachte ihm eine Fleischwunde an der Schulter bei, und seine Wange wurde von einem Steinsplitter aufgerissen, als eine zweite Kugel gegen die Felswand prallte. In dem Augenblick, in dem das alles geschah und er zurücksprang, sah er, daß es in der Schlucht von Soldaten nur so wimmelte. Seine eigenen Leute hatten ihn verraten. Das Granatfeuer war zu schrecklich gewesen, und sie hatten dem Gefängnis von Molokai den Vorzug gegeben.
Koolau zog sich zurück und schnallte einen seiner schweren Patronengürtel ab. Zwischen den Felsen liegend, wartete er, bis sich Kopf und Schultern des ersten Soldaten deutlich abzeichneten, ehe er abdrückte. Das geschah zweimal, und dann tauchte nach einer Pause anstatt eines weiteren Oberkörpers eine weiße Fahne über dem Rand der Felswand auf.
»Was willst du?« fragte er.
»Ich will dich, wenn du Koolau, der Aussätzige, bist«, lautete die Antwort.
Koolau vergaß, wo er war, er vergaß alles, als er dalag und sich über die seltsame Hartnäckigkeit dieser Haoles wunderte, die ihren Willen durchsetzen wollten, und wenn der Himmel darüber einstürzte. Ja, sie würden ihn allen Menschen und allen Dingen aufzwingen und selbst den Tod dafür in Kauf nehmen. Er konnte einfach nicht umhin, sie wegen dieses Willens zu bewundern, der stärker als das Leben war und der alles ihrem Gebot unterwarf. Er war von der Aussichtslosigkeit seines Kampfes überzeugt. Diesem furchtbaren Willen der Haoles konnte man sich nicht widersetzen.