Und wenn er tausend Mann tötete, so würden sie doch am Ende so zahlreich werden wie der Sand am Meer und ihn weiter verfolgen. Sie wußten nie, wann sie besiegt waren. Das war ihr Fehler und zugleich ihre Stärke. Das war es, was seiner eigenen Rasse fehlte. Jetzt wurde ihm klar, wie diese Handvoll von Evangelisten Gottes und des Rums das Land erobert hatten. Weil sie.
»Nun, was hast du zu sagen? Wirst du mitkommen?«
Es war die Stimme des unsichtbaren Mannes unter der Fahne. Wie jeder Haole steuerte er ohne Umschweife direkt auf das einmal gesetzte Ziel zu.
»Laß uns darüber reden«, sagte Koolau.
Kopf und Schultern kamen zum Vorschein, dann sein ganzer Körper. Er war ein blauäugiger junger Mann von fünfundzwanzig, mit glattrasiertem Gesicht, schlank und schmuck in seiner Hauptmannsuniform. Er kam näher, bis ihm Halt geboten wurde, und setzte sich dann in etwa vier Metern Entfernung nieder. »Du hast Mut«, sagte Koolau erstaunt. »Ich könnte dich wie eine Fliege töten.«
»Nein, das könntest du nicht«, kam die Antwort.
»Warum nicht?« »Weil du ein Mann bist, Koolau, wenn auch einer von der schlimmen Sorte. Ich kenne deine Geschichte. Du tötest nur auf faire Art.«
Koolau knurrte, aber insgeheim freute es ihn.
»Was habt ihr mit meinen Leuten gemacht?« wollte er wissen. »Mit dem Jungen, den beiden Frauen und dem Mann?«
»Sie haben sich ergeben, wozu ich dich jetzt auch auffordere.«
Koolau lachte ungläubig.
»Ich bin ein freier Mensch«, verkündete er. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich verlange nur, daß man mich in Frieden läßt, das ist alles. Ich habe als freier Mensch gelebt, und ich will als freier Mensch sterben. Ich werde mich nicht ergeben.«
»Dann sind deine Leute klüger als du«, entgegnete der junge Hauptmann. »Sieh nur - dort kommen sie.«
Koolau drehte sich um und sah den Rest seiner Schar näherwanken. Stöhnend und seufzend schleppten sie ihr Elend an ihm vorbei - ein gespenstischer Zug. Koolau waren noch bittere Augenblicke beschieden, denn im Vorbeigehen überschütteten sie ihn mit Verwünschungen und Beschimpfungen; und das keuchende alte Weib, das den Zug beschloß, blieb stehen, streckte ihre dürren Harpyienkrallen aus, wiegte knurrend ihren Totenschädel hin und her und stieß einen Fluch aus. Einer nach dem andern überquerte den Kamm und ergab sich den in Deckung gegangenen Soldaten.
»Du kannst dich jetzt zurückziehen«, sagte Koolau zu dem Hauptmann. »Ich werde mich nie ergeben. Das ist mein letztes Wort. Leb wohl.«
Der Hauptmann verschwand hinter dem Felsen bei seinen Soldaten. Gleich darauf hob er ohne Parlamentärsflagge die Mütze auf seiner Säbelscheide in die Höhe, und Koolaus Kugel durchschlug sie. An diesem Nachmittag beschossen sie ihn vom Strand aus mit Granaten, und als er sich in die hochgelegenen, unzugänglichen Schlupfwinkel weiter oben zurückzog, folgten ihm die Soldaten.
Sechs Wochen lang jagten sie ihn von einem Versteck zum andern, über die Vulkangipfel und die Ziegenpfade entlang. Als er sich im Lantanendschungel verbarg, bildeten sie Reihen von Treibern und hetzten ihn wie ein Kaninchen durch das Guavengestrüpp. Aber immer wieder wechselte er die Richtung, schlug Haken und entwischte ihnen. Sie konnten ihn nicht in die Enge treiben. Kamen sie ihm zu nahe, stellte sein zuverlässiges Gewehr den gebührenden Abstand wieder her, und sie trugen ihre Verwundeten den Ziegenpfad hinunter zum Strand. Zuweilen feuerten auch sie, wenn sein brauner Körper sich für einen Augenblick im Unterholz zeigte. Einmal erwischten ihn fünf von ihnen auf einem ungeschützten Ziegenpfad zwischen den Verstecken. Sie schossen ihre Gewehre auf ihn leer, während er hinkend den schwindelerregenden Steig emporkletterte. Danach fanden sie Blutspuren und wußten, daß er verletzt war. Nach sechs Wochen gaben sie auf. Soldaten und Polizei kehrten nach Honolulu zurück, und das Kalalau-Tal wurde ganz ihm überlassen, wenngleich sich von Zeit zu Zeit Kopfgeldjäger dorthin wagten und in ihr Verderben rannten.
Zwei Jahre später verkroch sich Koolau zum letzten Mal in einem Dickicht und legte sich zwischen Ti-Blättern und wilden Ingwerblüten nieder. Als freier Mann hatte er gelebt, und als freier Mann starb er. Ein leichter Nieselregen setzte ein, und er zog eine zerlumpte Decke über seine verstümmelten Gliederreste. Sein Körper war mit einem Mantel aus Ölzeug bedeckt. Quer über die Brust legte er sich sein Mausergewehr und wischte zärtlich die Feuchtigkeit vom Lauf. Die Hand, mit der er das tat, besaß keinen einzigen Finger mehr, um abzudrücken.
Er schloß die Augen, denn an der Schwäche in seinem Körper und dem benommenen Aufruhr, der in seinem Gehirn herrschte, erkannte er, daß sein Ende nahte. Wie ein wildes Tier hatte er sich zum Sterben in einem Versteck verkrochen. Nur halb bei Bewußtsein und ziellos umherschweifend, durchlebte er in Gedanken noch einmal die Zeit als junger Mann auf Niihau. Während das Leben erlosch und das Tropfen des Regens in seinen Ohren immer schwächer wurde, schien es ihm, als sei er gerade dabei, Pferde zuzureiten, als bockten und bäumten sich die wilden Hengstfüllen unter ihm, der mit unter dem Pferdebauch zusammengebundenen Steigbügeln ritt, oder als jagten sie wie verrückt in der Zureitkoppel umher und scheuchten die Cowboys, die helfen wollten, über das Gatter. Im nächsten Augenblick sah er sich - und es schien ihm ganz natürlich - die wilden Bullen auf den Hochlandweiden verfolgen, sie mit dem Lasso einfangen und ins Tal bringen. Wieder brannten der Schweiß und der Staub des Brandpferchs in seinen Augen und stachen ihm in die Nase.
Seine ganze fröhliche, unversehrte Jugend stand vor ihm auf, bis die bohrenden Schmerzen der nahen Auflösung ihn in die Wirklichkeit zurückbrachten. Er hob seine verstümmelten Hände und starrte sie verwundert an. Aber wie? Warum? Warum mußte die Unversehrtheit seiner ungezügelten Jugend sich in so etwas verwandeln? Dann erinnerte er sich, und einen Augenblick lang war er wieder Koolau, der Aussätzige. Seine Lider sanken müde herab, und seine Ohren nahmen das Geräusch der Regentropfen nicht länger wahr. Ein anhaltendes Zittern überfiel seinen Körper. Dann hörte auch das auf. Er hob den Kopf ein wenig, aber der fiel zurück. Dann öffneten sich die Augen und schlossen sich nicht wieder. Sein letzter Gedanke galt seinem Mausergewehr, und er preßte es mit seinen zusammengelegten, fingerlosen Händen an die Brust.
DER SHERIFF VON KONA
»Man muß dieses Klima einfach lieben«, sagte Cudworth als Antwort auf mein Loblied auf die Küste von Kona. »Ich war ein junger Bursche, als ich vor achtzehn Jahren frisch von der Universität hierherkam. Ich bin niemals wieder nach Hause zurückgekehrt, von gelegentlichen Besuchen einmal abgesehen. Und ich warne Sie, wenn Sie irgendein Fleckchen auf dieser Erde haben, das Ihnen teuer ist, dann halten Sie sich nicht zu lange auf, sonst wird Ihnen das hier noch mehr ans Herz wachsen.«
Das Abendessen lag hinter uns; man hatte es auf dem großen Lanai serviert, dem einzigen, der der Nordseite ausgesetzt war, wenn auch »ausgesetzt« in so einem angenehmen Klima eine wahrhaft unpassende Bezeichnung ist.
Die Kerzen waren gelöscht, und ein schlanker, weißgekleideter Japaner glitt wie ein Geist durch das silberne Mondlicht, bot uns Zigarren an und verschwand im Dunkel des Bungalow. Ich blickte durch einen Wandschirm aus Bananenstauden und Eisenholzbäumen über das Guavengestrüpp hinweg auf das ruhige, etwa dreihundert Meter tiefer liegende Meer. Eine Woche lang, seit ich von dem winzigen Küstendampfer an Land gesetzt worden war, wohnte ich nun schon bei Cudworth, und während dieser Zeit hatte nicht ein Windhauch die glatte See gekräuselt. Zwar hatte hin und wieder eine Brise geweht, aber es waren die sanftesten Zephire, die je über Inseln des ewigen Sommers strichen. Es waren keine Windstöße; es waren Seufzer - lange, linde Seufzer einer ruhenden Welt.