Unten im nächsten Tal, das sehr winzig war, fanden wir Spuren einer früheren Besiedlung, aber es waren keine Menschen mehr da. Abenteuerliche Fußpfade, die die schwindelerregenden Talwände hinauf- und hinunterführten, bilden die einzige Verbindung. Aber so mager und alt Ahuna auch war, er schien keine Erschöpfung zu kennen. Im zweiten Tal lebte ein alter Aussätziger, der sich hier versteckte. Er kannte mich nicht, und als Ahuna ihm erzählte, wer ich war, warf er sich mir zu Füßen, umklammerte sie fast und murmelte mit seinem lippenlosen Mund ein Mele über meine ganze Ahnenreihe.
Das nächste Tal erwies sich als das Tal. Es war lang und so eng, daß sein Boden nicht Raum für genügend Ackerland hatte, um Taro für eine einzige Person anzubauen. Es besaß auch keinen Strand, da der Wasserlauf, der sich hindurchschlängelte, eine mehrere hundert Meter hohe Pali hinunter ins Meer stürzte. Es war ein gottverlassener Ort voll nackter ausgewaschener Lava, auf der die Vegetation nur sehr selten Fuß fassen konnte. Kilometerweit folgten wir diesem sich windenden Spalt durch hoch aufgetürmte Wände hindurch, weit in das Gewirr des Hinterlandes hinein, das jenseits der Felsenküste liegt. Wie weit das Tal hineinreichte, weiß ich nicht, doch nach der Wassermenge des Baches zu urteilen, mußte es ein ordentliches Stück sein. Wir gingen nicht bis zum Ende des Tales. Ich konnte sehen, wie Ahuna all die Gipfel beäugte, und wußte, daß er nach natürlichen Orientierungspunkten Ausschau hielt, die nur ihm allein bekannt waren. Als wir endlich anhielten, geschah das mit abrupter Sicherheit. Seine Markierungslinien hatten sich gekreuzt. Er warf den Essensvorrat und die Kleidungsstücke, die er geschleppt hatte, zu Boden. Das war die Stelle. Ich sah nach beiden Seiten auf die harten, abweisenden Felswände ohne jede Vegetation und konnte mir in so einem nackten Steingrund keine Grabstätte vorstellen.
Wir aßen, dann zogen wir uns für unsere Aufgabe aus. Ahuna erlaubte mir nur, meine Schuhe anzubehalten. Er stand neben mir im gleichen Aufzug und ungeheuer dürr am Rand eines tiefen Beckens.
>Du wirst jetzt an dieser Stelle in das Bassin hinuntertauchenc, sagte er. >Suche die Auffaltung mit den Händen ab, wenn du hinuntertauchst, und in etwa eineinhalb Faden Tiefe wirst du ein Loch finden. Schlüpf mit dem Kopf voran hinein, aber langsam, denn die Lava ist scharf und du kannst dir Kopf und Körper daran aufschlitzen!<
>Und dann?< wollte ich wissen. >Du wirst feststellen, daß das Loch größer wird<, lautete seine Antwort. >Wenn du acht Faden weit durch den Gang geschwommen bist, tauchst du langsam auf, bis du merkst, daß dein Kopf in der Luft ist, über Wasser, im Dunkeln. Warte dort auf mich. Das Wasser ist sehr kalt.<
Es hörte sich für meine Begriffe alles nicht sehr gut an. Ich dachte dabei gar nicht an das kalte Wasser und die Dunkelheit, sondern an die Knochen. >Geh du zuerst<, schlug ich vor. Aber er meinte, das ginge nicht. >Du bist mein Alii, mein Prinz<, sagte er. >Es ist unmöglich, daß ich vor dir die geheiligte Grabstätte deiner königlichen Ahnen betreten.<
Doch die Vorstellung gefiel mir nicht. >Laß doch das Prinz-Getue<, sagte ich ihm. >So weit her ist es damit auch nicht. Du gehst voran, und ich werde dich niemals verraten.<
>Nicht nur die Lebenden müssen wir zufriedenstellenc, mahnte er, >sondern noch viel mehr die Verstorbenen. Auch können wir die Toten nicht belügen.<
Wir verhandelten hin und her, und eine halbe Stunde lang befanden wir uns an einem toten Punkt. Ich wollte nicht, und er konnte einfach nicht. Er versuchte, mich umzustimmen, indem er an meinen Stolz appellierte. Er sang mir die Heldentaten meiner Ahnen vor, und, daran erinnere ich mich besonders gut, er sang von Mokomoku, meinem Urgroßvater, dem riesenhaften Vater des riesigen Kaaukuu, erzählte, wie Mokomoku in der Schlacht dreimal mitten unter seine Feinde sprang, mit jeder Hand einen Krieger beim Genick packte und ihre Köpfe gegeneinanderschlug, bis sie tot waren. Aber nicht das stimmte mich um. Mir tat der alte Ahuna wirklich leid, er war so außer sich vor Angst, daß die Expedition scheitern könnte. Und ich bewunderte den alten Burschen immer mehr, nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich zum Schlafen zwischen mich und den Rand des Kliffs gelegt hatte.
So sagte ich mit der echten Befehlsgewalt eines Alii: >Du wirst mir sofort folgen!< und sprang. Alles war so, wie er es gesagt hatte. Ich fand den Eingang zu dem unterirdischen Gang, schwamm vorsichtig hindurch, schnitt mir einmal die Schulter an dem scharfen Lavagestein des Gewölbes auf und tauchte in der Dunkelheit wieder auf. Doch ehe ich bis dreißig zählen konnte, kam er neben mir an die Oberfläche, legte seine Hand auf meinen Arm, um sich zu vergewissern, daß ich da sei, und wies mich an, etwa dreißig Meter weit vor ihm herzuschwimmen. Dann bekamen wir Grund unter die Füße und kletterten hinaus auf die Felsen. Und immer noch kein Licht, und ich erinnere mich, heilfroh gewesen zu sein, daß wir uns in zu großer Höhe für Tausendfüßler befanden.
Er hatte eine fest verschlossene Kokosnußkalebasse mit Walfischtran mitgebracht, der wohl vor dreißig Jahren am Strand von Lahaina ausgeladen worden war. Aus seinem Mund nahm er ein wasserdichtes Behältnis für Streichhölzer, das aus zwei leeren, genau ineinander passenden Gewehrpatronen bestand. Er zündete den Docht an, der auf dem Öl schwamm, und ich sah mich um und war enttäuscht. Es war keine Grabkammer, sondern nichts anderes als eine Lavaröhre, wie man sie überall auf den Inseln antrifft.
Er drückte mir die Kalebasse mit dem Licht in die Hand und schickte mich vor auf den Weg, der, wie er mir versicherte, lang, aber nicht zu lang sein würde. Er war lang, mindestens eineinhalb Kilometer lang, wenn ich es nüchtern beurteile, obwohl er mir damals wie acht Kilometer vorkam, und er stieg steil an. Als mich Ahuna schließlich anhalten ließ, wußte ich, daß wir bald am Ziel sein würden. Er kniete mit seinen mageren, alten Gliedern auf dem scharfen Lavagestein und umklammerte mit seinen dürren Armen meine Knie. Meine freie Hand legte er auf seinen Kopf. Er sang mir mit seiner alten, gebrochenen und zitternden Stimme die Verse über meinen Stammbaum und meine ganz besonders hohe Alii-Würde vor. Und dann sagte er:
>Erzähle weder Kanau noch Hiwilani etwas von dem, was du nun zu sehen bekommst. Kanau ist nichts heilig. Er hat nur Zucker und Pferdezucht im Kopf. Ich weiß, daß er einen Federumhang, den sein Großvater getragen hatte, für achttausend Dollar an diesen englischen Sammler verkaufte, und am nächsten Tag verlor er das Geld bei Wetten auf den Ausgang des Polospiels zwischen Maui und Oahu. Hiwilani, deine Mutter, ist voller Heiligkeit. Und sie hat zuviel davon. Sie wird alt und wirr im Kopf und ist der Zauberei verfallene >Nein<, gab ich zur Antwort. >Ich werde niemandem etwas sagen. Wenn ich es tun würde, dann müßte ich noch einmal hierherkommen. Und ich will nie wieder an diesen Ort zurückkehren. Ich will alles einmal probieren. Aber das hier werde ich kein zweites Mal versuchen.<
>Es ist gut<, meinte er und erhob sich, blieb aber etwas zurück, um mir den Vortritt zu überlassen. Er sagte auch: >Deine Mutter ist alt. Ich werde ihr, wie versprochen, die Gebeine ihrer Mutter und ihres Großvaters bringen. Das wird sie zufriedenstellen, bis sie stirbt; falls ich vor ihr sterbe, mußt du dann dafür sorgen, daß alle Knochen ihrer Familiensammlung in das königliche Mausoleum gebracht werden.<