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»Ein Land des süßen Nichtstuns«, sagte ich.

»Wo ein Tag dem andern gleicht und jeder Tag paradiesisch ist«, entgegnete er. »Es geschieht nie etwas. Es ist nicht zu heiß. Es ist nicht zu kalt. Es ist immer angenehm. Haben Sie bemerkt, wie Land und Meer abwechselnd atmen?«

Dieses herrliche, rhythmische Atmen war mir tatsächlich aufgefallen. Jeden Morgen hatte ich die Seebrise beobachtet, die an der Küste begann, sich langsam über das Meer ausdehnte und dabei dem Land den mildesten, sanftesten Ozonhauch zufächelte. Sie strich spielerisch über das Meer und verdunkelte leicht seine Oberfläche, ließ je nach Laune hier und da und überall zwischen ihren Küssen lange Bahnen völliger Stille frei, die sie verschob, verwandelte und vor sich hertrieb. Und jeden Abend hatte ich beobachtet, wie sich der Atem des Meeres in einer himmlischen Ruhe verlor, und gehört, wie der Atem des Landes sich sanft seinen Weg durch die Kaffee- und Topffruchtbäume bahnte.

»Es ist ein Land immerwährender Stille«, sagte ich. »Kommt hier überhaupt jemals Wind auf? - Ein richtiger Wind? Sie wissen schon, was ich meine.«

Cudworth schüttelte den Kopf und zeigte nach Osten.

»Wie kann er wehen, wenn eine solche Barriere ihn abhält?«

Hoch über uns türmten sich die riesigen Bergstöcke des Mauna Kea und Mauna Loa und schienen den halben Sternenhimmel zu verschlucken. Mehr als viertausend Meter über unseren Köpfen erhoben sie ihre eigenen Häupter, weiß von jenem Schnee, den nicht einmal die Tropensonne zu schmelzen vermochte.

»Ich möchte wetten, daß es fünfzig Kilometer von hier in diesem Augenblick stürmt, und zwar mit einer Geschwindigkeit von fünfundsechzig Stundenkilometern.«

Ich lächelte ungläubig.

Cudworth ging zu dem Telefon auf dem Lanai. Er rief nacheinander Waimea, Kohala und Hamakua an. Bruchstücken seiner Unterhaltung konnte ich entnehmen, daß es dort tatsächlich blies: »Stürmisch mit starken Böen, ja?. Wie lange schon?. Erst seit einer Woche?. Hallo, bist du es, Abe?... Ja, ja. Du willst also Kaffee an der Hamakua-Küste pflanzen. Zum Teufel mit deinen Windabweisern! Du solltest meine Bäume sehen.«

»Es stürmt«, sagte er, als er den Hörer einhängte und sich zu mir umwandte. »Ich muß Abe einfach immer mit seinem Kaffee aufziehen. Er hat zweihundert Hektar bepflanzt und vollbringt in Sachen Windschutz wahre Wunder, aber wie er es anstellt, daß die Wurzeln in der Erde bleiben, ist mir ein Rätsel. Wind? Es geht immer ein Wind an der Küste von Hamakua. Kohala meldet einen Schoner, der unter doppelt gerefften Segeln in der Straße zwischen Hawaii und Maui kreuzt und schwer zu kämpfen hat.«

»Kaum zu glauben«, sagte ich ohne Überzeugungskraft. »Geschieht es denn nie, daß sich dort drüben ein kleines Lüftchen selbständig macht und hierher kommt?«

»Nicht ein Hauch. Unsere Landbrise hat überhaupt nichts damit zu tun, denn sie entsteht erst diesseits des Mauna Kea und des Mauna Loa. Sehen Sie, das Land strahlt seine Wärme schneller ab als die See, und deshalb atmet das Land des Nachts auf die See hinaus. Tagsüber erwärmt sich das Land stärker als die See, und so kehrt sich der Luftstrom um. Hören Sie! Da kommt jetzt der Atem des Landes, der Bergwind.«

Ich konnte ihn hören, wie er herankam, leise durch die Kaffeesträucher strich, die Topffruchtbäume bewegte und durch das Zuckerrohr seufzte. Auf dem Lanai war es noch still. Dann war er zum erstenmal zu spüren, der Bergwind, gelinde duftend, angenehm und würzig, und kühl, herrlich kühl, eine seidige Kühle, wie kühler Wein - so kühl, wie nur der Bergwind von Kona sein kann.

»Wundert es Sie noch, daß ich vor achtzehn Jahren mein Herz an Kona verlor?« fragte er. »Jetzt könnte ich nie mehr von hier fortgehen. Ich glaube, es wäre mein Tod. Es wäre schrecklich. Aber es gab einen anderen Menschen, der diesen Ort liebte, ebenso sehr liebte wie ich. Er liebte ihn wahrscheinlich sogar noch mehr, denn er war hier an der Küste von Kona geboren. Er war ein großartiger Mann, mein bester Freund, mir mehr als ein Bruder. Aber er ging fort und starb dennoch nicht.«

»Liebe?« erkundigte ich mich. »Eine Frau?«

Cudworth schüttelte den Kopf.

»Er wird auch niemals zurückkehren, obgleich sein Herz hier bleiben wird, bis er stirbt.«

Er hielt inne und starrte hinunter auf die Lichter am Strand von Kailua. Ich rauchte schweigend und wartete.

»Er liebte schon jemanden. seine Frau. Er hatte auch drei Kinder, und die liebte er ebenfalls. Sie sind jetzt in Honolulu. Der Junge besucht die Universität.«

»Eine Affekthandlung?« fragte ich nach einer Weile ungeduldig.

Er schüttelte den Kopf. »Er hat weder ein Verbrechen begangen, noch wurde er einer strafbaren Handlung beschuldigt. Er war Sheriff von Kona.«

»Sie haben wohl eine Vorliebe fürs Paradoxe«, sagte ich.

»Vermutlich klingt es so«, gab er zu, »und das ist gerade das Grausame daran.«

Er sah mich einen Augenblick prüfend an und begann dann plötzlich zu erzählen.

»Er hatte Lepra. Nein, er wurde nicht damit geboren - keiner wird damit geboren. Sie hat ihn befallen. Dieser Mann - ach, was liegt schon daran? Lyte Gregory war sein Name. Jeder Kamaaina kennt die Geschichte. Er war rein amerikanischer Abstammung, aber gebaut wie einst die Häuptlinge im alten Hawaii. Er maß einen Meter neunzig und wog ohne Kleider zweihundert Pfund, und davon bestand jedes Gramm aus schieren Muskeln und Knochen. Er war der kräftigste Mann, den ich je gesehen habe. Er war ein Athlet und ein Riese. Er war ein Gott. Er war mein Freund. Und sein Herz und seine Seele waren ebenso groß und prachtvoll wie sein Körper.

Was würden Sie wohl tun, wenn Sie zusehen müßten, wie Ihr Freund, Ihr Bruder, am schlüpfrigen Rand eines Abgrunds ausglitte und immer weiter abrutschte, und Sie nichts dagegen unternehmen könnten. Genauso war es. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich sah es kommen und konnte nichts tun. Mein Gott, Mann! Was konnte ich denn tun? Da war es, bösartig und unleugbar, das Zeichen der Krankheit auf seiner Stirn. Kein anderer sah es. Ich allein sah es, davon bin ich überzeugt, weil ich ihn so liebte. Ich mochte meinen eigenen Augen nicht trauen. Es war einfach zu entsetzlich. Und doch war es da, auf seiner Stirn, an seinen Ohren. Ich hatte sie bemerkt, die leichte Schwellung der Ohrläppchen - ach, so leicht, kaum wahrnehmbar. Ich beobachtete sie über Monate hinweg. Dann als nächstes, während ich immer noch ein letztes Fünkchen Hoffnung hegte, färbte sich die Haut über beiden Augenbrauen dunkler - ach, ganz schwach nur, wie die Andeutung eines Sonnenbrandes. Ich hätte es für einen Sonnenbrand gehalten, wäre da nicht dieser Schimmer gewesen, so ein unmerklicher Schimmer, wie ein Glanzlicht, das man nur für einen Moment wahrnimmt und das im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden ist. Ich versuchte, daran zu glauben, daß es nur ein Sonnenbrand sei, doch es gelang mir nicht. Ich wußte es besser. Keiner außer mir bemerkte es. Kein einziger, außer Stephen Kaluna, und das erfuhr ich erst später. Aber ich sah es kommen, in seiner ganzen verfluchten, unbeschreiblichen Schrecklichkeit; doch ich weigerte mich, an die Zukunft zu denken. Ich hatte Angst. Ich konnte es nicht. Und nachts weinte ich deswegen.

Er war mein Freund. Wir angelten zusammen Haie auf Niihau. Wir jagten wilde Rinder auf dem Mauna Kea und Mauna Loa. Wir ritten Pferde zu und drückten den jungen Stieren auf der Carter Ranch das Brandzeichen auf. Wir spürten die Ziegen auf dem Haleakala auf. Er brachte mir das Tauchen und Wellenreiten bei, bis ich fast so geschickt war wie er, und er war geschickter als die meisten Kanaken. Ich habe ihn fast dreißig Meter tief tauchen sehen, und er konnte zwei Minuten unten bleiben. Er war ein Amphibienwesen und ein Bergsteiger. Er konnte noch dort klettern, wo sich nur eine Ziege hinwagte. Er fürchtete sich vor nichts. Er war auf der Luga, als sie Schiffbruch erlitt und schwamm achtundvierzig Kilometer in sechsunddreißig Stunden bei schwerem Seegang. Er konnte sich durch Brecher hindurchkämpfen, die Sie und mich zu Brei zermalmen würden. Er war ein großartiger, strahlender Halbgott. Wir machten zusammen die Revolution mit. Beide waren wir romantische Königstreue. Er wurde zweimal angeschossen und zum Tode verurteilt. Aber er war ein zu großer Mann, als daß die Republikaner ihn hätten beseitigen können. Er lachte sie aus. Später erwiesen sie ihm die Ehre und machten ihn zum Sheriff von Kona. Er war ein einfacher Mensch, ein Junge, der nie erwachsen wurde. Er besaß kein kompliziertes Denkmuster. Seine Gedankengänge waren ohne Winkelzüge oder Spitzfindigkeiten. Er ging geradewegs auf eine Sache los, und seine Absichten waren immer leicht zu verstehen.