Als Lee Barton einmal von einer nachmittäglichen Besichtigung der großen Trockendockanlage in Pearl Harbor zurückkehrte und dabei mit größter Geschwindigkeit fuhr, um vor dem Abendessen noch Zeit zum Umkleiden zu haben, überholte er Sonnys Wagen; und der einzige Passagier, den Sonny nach Hause fuhr, war Ida. Eine Woche später, er hatte in der Zwischenzeit nicht mehr Karten gespielt, kam er eines Abends von einer Herrengesellschaft im Universitäts-Club nach Hause, kurz bevor Ida von dem Poi-Essen und Tanzabend bei den Aistones zurückkehrte. Und Sonny hatte sie nach Hause gebracht. Major Franklin und seine Frau waren vorher von ihnen, wie sie erwähnten, in Fort Shafter am anderen Ende der Stadt und meilenweit vom Strand entfernt abgesetzt worden.
Lee Barton, der schließlich auch nur ein Mensch und ein Mann war und als Mensch und Mann Sonny stets mit aller Freundlichkeit begegnete, litt insgeheim bittere Qualen. Nicht einmal Ida ahnte, daß er litt; und sie führte ihr fröhliches, sorgloses und mit Lachen erfülltes Leben weiter, ihres eigenen Herzens sicher, wenn auch ein wenig erstaunt über die zunehmende Anzahl der Cocktails, die ihr Mann vor dem Essen zu sich nahm.
Scheinbar hatte sie, wie stets, Zugang zu allem, was ihn bewegte, doch nun wußte sie weder etwas von seiner ungeahnten Qual noch von den langen, parallel laufenden Kolonnen geistiger Buchführung, die sich von Augenblick zu Augenblick und Tag und Nacht in seinem Kopf zu einem Endresultat zusammenaddierten. Die eine Kolonne bestand aus den unzweifelhaft spontanen Ausdrucksformen ihrer gewohnten Liebe und Fürsorge für ihn, ihren vielen Handlungen, mit denen sie für sein Wohlbefinden sorgte, ihn um Rat fragte und seinen Rat befolgte. In einer anderen Reihe, in der noch mehr Posten aufgeführt wurden, tauchten ihre Äußerungen und Taten auf, die er nur als zweifelhaft einordnen konnte. Waren sie das, was sie zu sein schienen? Oder trieb sie, gewollt oder ungewollt, damit ein doppeltes Spiel?
Die dritte Kolonne, die längste von allen und die für die Regungen des menschlichen Herzens bedeutsamste, war mit Posten angefüllt, die sich direkt oder indirekt auf Ida und Sonny Grandison bezogen. Lee Barton machte diese Buchführung nicht freiwillig. Er konnte einfach nicht anders. Gern hätte er es vermieden. Aber in seinem ziemlich geordneten Verstand nahmen die Eingangsposten ganz von selbst und fast ohne sein Zutun automatisch ihren Platz in den betreffenden Spalten ein.
In seiner verzerrten Sehweise, die offenbar die unbedeutendste Einzelheit vergrößerte, was er sich zumindest halbwegs eingestand, nahm er Zuflucht zu Macllwaine, dem er einst einen sehr großen Dienst erwiesen hatte. Macllwaine war der Chef der Kriminalpolizei. »Ist Sonny Grandison ein Frauenheld?« hatte Barton ihn gefragt. Macllwaine hatte darauf nicht geantwortet. »Dann ist er ein Frauenheld«, hatte Barton erklärt. Und immer noch hatte der Chef der Kriminalpolizei nichts gesagt.
Kurz darauf las Lee Barton den schriftlichen Bericht durch, bevor er ihn wegen seiner Brisanz zerstörte. Nicht belastend, nicht wirklich belastend, faßte er zusammen; aber auch nicht makellos nach dem Tod seiner Frau vor zehn Jahren. Es war eine Liebesheirat gewesen, die in der Gesellschaft von Honolulu beinahe Berühmtheit erlangt hatte, denn die beiden waren vollkommen ineinander vernarrt gewesen, nicht nur vor, sondern auch nach ihrer Heirat und bis zu dem tragischen Tod seiner Frau, die mit ihrem Pferd an die dreihundert Meter tief vom Nahiku-Pfad abgestürzt war. Und lange Zeit danach, stellte Macllwaine fest, hatte Grandison keinerlei Interesse an irgendeiner anderen Frau gezeigt. Und was dann auch immer gewesen war, es war stets sehr anständig zugegangen. Nie auch nur eine Spur von Klatsch oder Skandal; und die ganze Gesellschaft mußte es schließlich als gegeben hinnehmen, daß er ein Mann war, der nur eine einzige Frau geliebt hatte und der nie wieder heiraten würde. Von den kleinen Affären, die aufnotiert waren, behauptete Macllwaine, daß Sonny Grandison keine Ahnung hätte, daß ein anderer als die Hauptbeteiligten selbst etwas davon wüßte.
Barton überflog mit einem Blick, beinahe beschämt, die verschiedenen Namen und Ereignisse, bevor er das Dokument den Flammen übergab. Er war überrascht. Jedenfalls war Sonny überaus diskret gewesen. Als er auf die Asche starrte, überlegte Barton, wieviel von seiner eigenen Jugend, seiner Junggesellenzeit, wohl in den Akten des guten, alten Macllwaine verwahrt war. Im nächsten Augenblick stieg ihm die Schamröte ins Gesicht, Scham vor sich selbst, über sich selbst. Wenn Macllwaine so viel über das Privatleben der Mitglieder der Gesellschaft wußte, hatte dann nicht er, Idas Ehemann, ihr Beschützer und Verteidiger, in Macllwaines Kopf einen Verdacht gegen sie geschürt?
»Hast du irgend etwas auf dem Herzen?« fragte Lee an diesem Abend seine Frau, als er ihren Schal hielt, während sie noch letzte Hand an ihre Garderobe legte.
Das entsprach ganz ihrer alten und erfolgreichen Übereinkunft, offen miteinander zu sein, und er wunderte sich, während er auf ihre Antwort wartete, weshalb er so lange gezögert hatte, sie zu fragen.
»Nein«, lächelte sie. »Nichts Bestimmtes, später, vielleicht.«
Sie wurde ganz davon in Anspruch genommen, sich im Spiegel zu betrachten, während sie etwas Puder auf die Nase tupfte und dann wieder abwischte.
»Du kennst mich, Lee«, fügte sie nach dieser Unterbrechung hinzu. »Ich brauche Zeit, um mir über die Dinge auf meine Art klarzuwerden, wenn es überhaupt etwas gibt, worüber ich mir klarwerden muß; aber wenn es soweit ist, erfährst du es immer. Und oft finde ich schließlich heraus, daß überhaupt nichts dahintersteckte, und dann brauchtest du dich damit gar nicht erst zu belasten.«
Sie breitete die Arme für ihn aus, damit er ihr den Schal umlegen konnte - ihre starken kleinen Arme, die so geschickt und stählern im Kampf mit den Brechern sein konnten, und die doch nur Frauenarme waren, rund, warm und weiß, entzückend, wie Frauenarme sein sollen, mit festen, unter sanft gerundeten Linien und feiner, glatter Haut verborgenen Muskeln, die sich, wenn sie wollte, nach Belieben anspannen ließen.
Er betrachtete sie nachdenklich, von heftigem Schmerz gequält und voller Sehnsucht nach Verständnis - so zart schien sie ihm, so zerbrechlich wie dünnes Porzellan, das ein starker Mann ohne weiteres zerdrücken konnte.
»Wir müssen uns beeilen!« rief sie, als er sich beim Zurechtrücken des leichten Schals über ihrem reizenden leichten Kleid zu lange verweilte. »Wir werden zu spät kommen. Und wenn es oben in Nuuanu regnet, werden wir noch den zweiten Tanz versäumen.«
Er nahm sich vor, zu beobachten, mit wem sie den zweiten Tanz tanzen würde, als sie vor ihm durch den Raum zur Tür ging; dabei erfreute sich sein Auge an ihrem, wie er es so oft bei sich genannt hatte, von geistigem und körperlichem Adel zeugenden Gang.
»Findest du nicht, daß ich dich durch meine allzu häufigen Pokerpartien vernachlässige?« versuchte er es nochmals auf indirektem Weg.
»Himmel, nein! Du weißt doch, daß ich es gern habe, wenn du deine Kartenorgien feierst. Sie wirken belebend auf dich. Und du hast dich da sehr gebessert, bist viel vernünftiger geworden. Ja, es ist fast schon Jahre her, daß du länger als bis ein Uhr nachts aufgeblieben bist.«