Es regnete nicht oben in Nuuanu, und an dem klaren Passathimmel über ihnen war jeder Stern zu sehen. Nachdem sie rechtzeitig bei den Inchkeeps angelangt waren, konnte Lee Barton feststellen, daß seine Frau den zweiten Tanz mit Grandison tanzte - was zwar an sich nichts Ungewöhnliches war, aber umgehend als Posten in Bartons geistigen Kontobüchern aufgelistet wurde.
Bedrückt und unruhig schlenderte er eine Stunde später, da er keine Lust hatte, den vierten Mann bei einem Bridgespiel in der Bibliothek abzugeben, und einigen jungen Matronen entfliehen wollte, in den großzügig angelegten Park hinaus. Er schritt über den Rasen und gelangte am anderen Ende zu einer Cereushecke mit ihrer nächtlichen Blütenpracht. Jede Knospe, die sich nach Einbruch der Dunkelheit öffnete und mit der heraufziehenden Morgendämmerung zu welken begann, vertrocknete und abfiel, lebte nur diese eine Nacht. Die großen, cremeweißen Blüten mit einem Durchmesser von dreißig Zentimetern oder mehr, die wächsern und liliengleich als weißleuchtende Anziehungspunkte das Dunkel der Nacht mit ihrem verlockenden Duft durchdrangen, waren in ihrer kurzlebigen Pracht wunderschön anzusehen.
Doch der Weg entlang der Hecke war voll von Menschen, die sich paarweise zwischen den Tänzen fortgestohlen hatten oder während des Tanzens herauskamen, sich dabei mit leisen, gedämpften Stimmen unterhielten und das Wunder der Blumenliebe betrachteten. Vom Lanai wehten die zärtlichen Liebesklänge des von den jungen Sängern vorgetragenen »Hanalei« herüber. Undeutlich erinnerte sich Lee Barton -vielleicht war es aus irgendeiner Novelle von Maupassant - an den Abbe, der, von der Idee besessen, daß Gottes Plan hinter allen Dingen stecke, keine Erklärung für die Nacht finden konnte, bis er schließlich entdeckte, daß sie der Liebe geweiht war.
Diese eindeutige Bestimmung der Nacht, wie sie Blumen und Menschen verrieten, schmerzte Barton. Er ging im weiten Bogen auf einem gewundenen Pfad, der sich am Rande der Rasenfläche im Schatten der Topffrucht- und Johannisbrotbäume entlangzog, wieder zum Haus zurück. In der Dunkelheit, dort, wo sein Pfad wieder ins Freie führte, sah er zum Greifen nahe auf einem anderen Weg im Dunkeln ein Paar stehen, das sich in den Armen lag. Die leidenschaftlich erregten, leisen Worte des Mannes hatten ihn aufmerken lassen, so daß er hinsah. Der Mann spürte seine Gegenwart; augenblicklich schwieg die Stimme, und die beiden verharrten reglos und verstohlen in ihrer Umarmung.
Er ging weiter, betrübt von dem Gedanken, daß im Dunkel der Bäume sich fortsetzte, was jene, die an der blühenden Hecke entlangschlenderten, dort unter freiem Himmel begonnen hatten. Oh, er kannte dieses Spiel von früher, als kein Schatten zu finster, kein listiges Versteck zu geheim war, um Schutz für ein kurzes Liebesglück zu gewähren. Im Grunde genommen waren die Menschen wie die Blumen, überlegte er.
Ehe er wieder in das lästige Räderwerk des Lebens, in das er hineingehörte, zurückkehrte, blieb er im Schein der erleuchteten Lanais stehen und starrte, obwohl er kaum etwas sah, auf die herrliche Prachtentfaltung scharlachroter, gefüllter Hibiskusblüten. Und plötzlich verdichtete sich all das, was er durchlitt, all das, was er gerade beobachtet hatte - von der des Nachts blühenden Hecke und den Menschen, die Liebesworte flüsternd zu zweit lustwandelten, bis zu dem Paar, das sich verstohlen, wie Diebe in der Nacht, in den Armen lag -, zu einer Parabel des Lebens, ausgelöst von dem nur einen Tag lang blühenden Hibiskus, auf den er jetzt, am Ende dieses kurzen Daseins, blickte. Zur vollen Blüte aufspringend nach der Morgendämmerung, zuerst schneeweiß, dann unter der wärmenden Sonne sich rosa verfärbend und mit Einbruch der Dunkelheit, aus der sie und ihre Schönheit nie wieder auftauchen würden, in ein tiefes Rot überwechselnd, erschien ihm diese Blume wie ein Sinnbild des menschlichen Lebens und seiner Leidenschaft.
Welche weiteren Bedeutungen er sonst noch abgeleitet hätte, sollte er nie erfahren, denn aus der Richtung der Johannisbrot-und Topffruchtbäume erklang von fern Idas unverkennbar heiteres und fröhliches Lachen. Er schaute nicht hin, aus Furcht, das zu sehen, was er erwartete, sondern zog sich hastig, fast stolpernd, die Stufen hinauf auf den Lanai zurück. Obwohl er auf den Anblick gefaßt war, wurde er, als er den Kopf wandte und in seiner Frau und Sonny eben das Paar wiedererkannte, das er in seiner Heimlichkeit beobachtet hatte, plötzlich von einem Schwindel befallen, blieb stehen, hielt sich mit einer Hand an einem Pfeiler fest und lächelte leer zu der Sängergruppe hinüber, die mit ihrem Refrain »Honi ka ua wikiwiki« die Sinnlichkeit der Nacht noch verstärkte.
In der nächsten Sekunde hatte er sich die Lippen mit der Zunge befeuchtet, bekam sein Gesicht und seinen Körper wieder in die Gewalt und scherzte mit Mrs. Inchkeep. Doch er durfte keine Zeit verlieren, um nicht dem Paar begegnen zu müssen, das er jetzt die Stufen hinter sich heraufkommen hörte.
»Ich habe das Gefühl, daß ich am Verdursten bin«, erzählte er seiner Gastgeberin, »und daß mich nur ein Highball retten kann.«
Sie lächelte zustimmend und deutete mit einem Kopfnicken zum Raucherlanai hinüber. Als der Tanzabend zu Ende ging, fanden sie ihn dort, wo er mit den älteren Herren über die Zuckerpolitik diskutierte.
Ein ganzer Konvoi von einem halben Dutzend Wagen brach nach Waikiki auf, und es ergab sich, daß man ihn dazu einteilte, die Leslies und die Burnstons nach Hause zu bringen, doch entging ihm nicht, daß Ida zusammen mit Sonny auf der Fahrerbank seines Wagens saß. Infolgedessen war sie vor ihm zu Hause und bürstete sich das Haar, als er heimkam. Der Abschied vor dem Zubettgehen war auf den ersten Blick wie immer, wenn er sich auch bei seinem erfolgreichen Bemühen, ganz zwanglos zu erscheinen, mächtig zusammennehmen mußte, als er daran dachte, wessen Lippen sich vor den seinen zuletzt auf Idas Mund gepreßt hatten.
War denn eine Frau wirklich das völlig unmoralische Geschöpf, als das es von den deutschen Pessimisten dargestellt wird, ging es ihm durch den Kopf, als er sich, schlaflos und unfähig zur Lektüre, unter seiner Leselampe hin und her wälzte. Nach einer Stunde stand er auf, öffnete seine Hausapotheke und nahm ein starkes Schlafmittel. Eine Stunde später nahm er, aus Furcht vor seinen Gedanken und einer schlaflosen Nacht, noch ein Pulver. Im Abstand von einer Stunde wiederholte er diese Dosierung noch zweimal. Doch die Wirkung der Droge setzte so langsam ein, daß schon der Morgen heraufdämmerte, ehe sich seine Augen schlossen.
Um sieben Uhr war er wieder wach, sein Mund war trocken, und er fühlte sich benommen und schläfrig, döste jetzt aber immer nur für einige Minuten ein. Er gab den Gedanken an Schlaf auf, frühstückte im Bett und widmete sich der Morgenzeitung und den Magazinen. Doch die Wirkung des Medikaments hielt an, und während des Frühstücks und der Morgenlektüre übermannte ihn immer wieder für kurze Zeit die Müdigkeit. Beim Duschen und Ankleiden erging es ihm ebenso, und wenn ihm auch das Medikament wenig Vergessen während der Nacht geschenkt hatte, so war er doch dankbar für die träumerische Lethargie, die den Morgen über von ihm Besitz ergriffen hatte.
Erst als seine Frau aufstand und heiter wie immer, lächelnd und schelmisch, entzückend anzusehen in ihrem Kimono, sein Zimmer betrat, überkam ihn die verrückte Launenhaftigkeit, die das Opium in seinem Körper bewirkte. Und da sie ihm trotz ihrer alten Abmachung, offen miteinander zu sein, unzweideutig zu verstehen gab, daß sie ihm nichts mitzuteilen hatte, begann er seine Opiumlüge aufzubauen. Auf ihre Frage, wie er geschlafen hätte, entgegnete er:
»Schlecht. Zweimal haben mich Krämpfe in beiden Füßen aus dem Schlaf gerissen. Ich hatte fast Angst davor, wieder einzuschlafen. Aber sie sind nicht wieder aufgetreten, wenn meine Füße jetzt auch höllisch wehtun.«
»Letztes Jahr hattest du das auch«, erinnerte sie ihn.
»Vielleicht entwickelt es sich zu einem saisonbedingten Leiden«, lächelte er. »Die Krämpfe sind nicht stark, aber es ist scheußlich, wenn man davon aufwacht. Sie werden vor heute abend nicht wiederkommen, falls sie sich überhaupt wiederholen, aber in der Zwischenzeit fühle ich mich, als hätte ich Stockschläge auf die Fußsohlen erhalten.«