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Trotzdem: der junge, dem »sozialen Abgrund« seines proletarischen Elends entfliehende Jack London ist von derartigen Schilderungen fasziniert, vor allem von Melvilles Zeichnung der paradiesisch scheinenden Marquesas-Inseln. Nie wieder - so bemerkt er später in seinem Seereisebuch Die Fahrt der Snark (1911) - sei er vom Traum dieser »terra australis« losgekommen. Freilich sind es nicht Tahiti oder Samoa, nicht die Marquesas oder die Salomonen, die den inzwischen weltberühmten Autor jener in der trostlosen Eiswüste Alaskas spielenden Erzählungen anlocken: es ist Hawaii, es ist Waikiki Beach, es sind die gewaltigen, aus dem Meer emporragenden Vulkankrater, der Haleakala etwa auf der Nachbarinsel Maui mit seinen etwa 33 Kilometern Umfang, es ist das noch liebliche, erst Jahrzehnte später zu traurigem Ruhm gelangende Pearl Harbor, es sind vor allem die Menschen, deren Grußwort »Aloha« - »meine Liebe sei mit dir« - für London die Andersartigkeit, den Unterschied zum kapitalistischen Konkurrenzkampf und zum Elend der Großstädte so sinnfällig macht.

Bevor Jack London aber den Spruch »Neapel sehen und sterben« in das Motto »Hawaii sehen und leben« umformulieren sollte, durfte der begeisterte Melville-Leser jene Inseln, die für ihn an die Stelle der Marquesas traten, vorerst nur aus der Ferne sehen: als der siebzehnjährige Matrose 1893 auf dem Robbenfänger »Sophia Sutherland« vorbeisegelte. Elf Jahre später machte der Reporter London auf seinem Weg in das Kriegsgebiet des russisch-japanischen Konfliktes im Januar 1904 für einen Tag in Waikiki Station, und sechs Monate später genoß er erneut in Honolulu Sonne und Wellen. 1905 kam er urplötzlich auf die Idee, es jenem wagemutigen Captain Joshua Slocum gleichzutun, der zwischen 1895 und 1898 mit seiner kleinen Jacht »Spray« den Erdball umrundet hatte. Deshalb entwarf und baute er, von manchem belächelt und verspottet, aber zielstrebig, wie er nun einmal war, ohne alle professionelle Hilfe die eigene Jacht, die »Snark«, benannt in Anspielung auf Lewis Carrolls The Hunting of the Snark. Der Stapellauf wurde - zuletzt durch das Erdbeben in San Francisco im April 1906 - immer wieder verzögert: nicht, wie ursprünglich vorgesehen, am 1. Oktober 1906, sondern erst am 23. April 1907 verließ das Schiff die Docks an der Franklin Street in San Francisco. Einige hundert Freiwillige hatten sich gemeldet, um in die Crew aufgenommen zu werden - Millionärssöhne und Professoren, Doktoren und Rancher, Sozialisten und Stenographen. Aber London nahm neben seiner zweiten Frau Charmian nur noch ihren Onkel Roscoe Eames, den zum Koch erkorenen Martin Johnson, einen später berühmten Afrika-Filmer, Herbert Stolz, einen jungen Studenten der Stanford-Universität, und einen japanischen Kajütenjungen mit. London meinte, für alles vorgesorgt zu haben: aber Eames kannte eben nur die Bucht von San Francisco und war als Navigator auf hoher See ein Versager. Jack London selbst mußte erst noch den Umgang mit dem Sextanten üben, Martin Johnson konnte gerade einmal Biskuits backen, und für Bert Stolz erwies sich die für Notfälle eingebaute Maschine als Rätsel. Und außerdem: die Orangen froren ein, Kerosindämpfe machten die Karotten ungenießbar und den Aufenthalt unter Deck zu einem Wagnis, Kohle war in verrotteten Säcken angeliefert worden, der Dynamo versagte, das Rettungsboot war leck. Obwohl London statt der zunächst eingeplanten 7000 Dollar nicht weniger als 30000 Dollar investiert hatte, schien die Snark auf dem Weg in ein Fiasko. Als die Jacht nach 27 Tagen doch noch im Hafen von Honolulu einlief, hatte man die Seeabenteurer bereits aufgegeben. Es war ein Fiasko, das später zum endgültigen Abbruch der Reise führen sollte, das aber London zunächst zu einem zweimonatigen Aufenthalt auf den Inseln zwang, um in der Zeit bis zum 15. August die Jacht reparieren zu lassen.

Aber im Grunde war es ein produktives Fiasko. Denn London sollte ein Inselreich kennenlernen, dessen Bewohner Ende des 18. Jahrhunderts unter dem König Kamehameha politisch geeint worden waren, die dann von Missionaren, wenig später von amerikanischen und europäischen Händlern und Investoren heimgesucht wurden, zwei Verfassungen nach amerikanischem Vorbild (1840 und 1852) erhalten hatten und nach der Annexion Kaliforniens (1853) das Interesse der sich immer weiter nach Westen ausdehnenden Vereinigten Staaten auf sich zogen: Zuckerrohrplantagen gingen in amerikanischen Besitz über, Lohnarbeiter wurden aus China und Japan importiert, 1887 wurde in Pearl Harbor ein Marinestützpunkt eingerichtet, und im Verlauf der unblutigen Revolution von 1893, die zur Absetzung der letzten Königin führte, forderte mancher den Anschluß an die USA. Nachdem am 4. Juli 1894 die Unabhängigkeit erklärt worden war und 1895 die formelle Abdankung der Königin erfolgte, annektierten die USA am 12. August 1898 - es war die Zeit des expansionistischen spanisch-amerikanischen Krieges - dann tatsächlich Hawaii, das aber erst 1959 zum fünfzigsten Bundesstaat erklärt wurde.

Jack London fand in Hawaii ein wahres Naturparadies - ein Naturparadies allerdings mit einer kolonialen und gemischtrassigen Gesellschaft, an der Spitze die alte Aristokratie und die neuen amerikanischen Kapitalisten: eigentlich eine delikate Situation für einen Sozialisten, der den für die Zeitschrift Cosmopolitan des Zeitungszaren W. R. Hearst geschriebenen Essay zum Thema »Was das Leben für mich bedeutet« mit der Zuversicht beschlossen hatte, daß ihm zu kämpfen vergönnt sein werde, »das Brecheisen in der Faust, Schulter an Schulter mit den Intellektuellen, den Idealisten, den klassenbewußten Arbeitern, den Hebel ansetzen zu können und das ganze Gebäude zum Wanken zu bringen«. Hatte er, während er sich auf Hawaii aufhielt, jenen Klang des »aufsteigenden Holzschuhs und des herabsteigenden polierten Stiefels« vergessen, den er zum Schluß des Essays zum Symbol gesellschaftlichen Umsturzes erklärt hatte? Es schien so zu sein: London dinierte mit seiner Frau im Royal Hawaiian Hotel, verkehrte mit Richtern, Kongreßabgeordneten, Finanzmagnaten, er traf sich mit der früheren Königin Liliuokalani, fischte bei Fackellicht mit dem Prinzen David Kawanakoa, war Gast auf der Ranch Lorrin A. Thurstons, des Verlegers des Pacific Commercial Advertiser.

Thurston war es allerdings auch, der London zu einer Rede vor hawaiischen Industriellen über sein Lieblingsthema, die Revolution, animierte. Und zum Erstaunen der Gastgeber besuchte London - ausgerechnet am Nationalfeiertag, dem 4. Juli - die Leprakolonie auf Molokai, auf jener zerklüfteten Insel, die wenige Jahrzehnte zuvor der belgische Priester und Missionar Pater Damien zum Ort seines heldenhaften Dienstes an den Kranken erkoren hatte, eine Insel, die als Verbannungsort für die Leprakranken des Landes diente. Allerdings schreibt er dann im Snark-Reisebuch, die Sensationspresse habe die Schrecken Molokais übertrieben, er, Jack London, zöge jederzeit diese »glückliche Kolonie« einem Leben in den »Jauchegruben« des Londoner Ostens oder der New Yorker East Side vor. Jack Kersdale, der amerikanische Held der Erzählung »Leb wohl, Jack«, weist sogar mit fast den gleichen Worten wie London selbst darauf hin, daß sich nach der Einführung eines relativ sicheren bakteriologischen Tests zahlreiche nach Molokai Verbannte, die nachträglich für gesund erklärt wurden, strikt geweigert hätten, die Kolonie wieder zu verlassen - London fügt hinzu, sie seien schließlich als Helfer und Krankenschwestern geblieben.