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Trotz dieser Argumente zeichnete London in den seit Juni

1909 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Leprageschichten, die später in die Sammlung The House of Pride (1912) aufgenommen wurden, ein völlig anderes Bild, ein Bild, das bei Einheimischen doch einige Empörung hervorrief. Denn in »Koolau, der Aussätzige« etwa dramatisiert London - ganz im Gegensatz zu den Bemerkungen im Snark-Reisebuch - den Widerstand von Leprakranken gegen die zwangsweise Deportierung, und er wählt dafür sogar noch die Binnenperspektive der Betroffenen selbst. Die geben durchaus stichhaltige Gründe für ihren Widerstand, der sich vor dem Hintergrund einer paradiesisch anmutenden Landschaft abspielt. Die Erzählung beginnt mit der Anklagerede des von der Lepra gezeichneten Helden gegen die europäischamerikanischen Missionare und Händler, die sich - so betont er - doppelzüngig des Landes bemächtigt und die dann die Plantagenwirtschaft eingeführt hätten, mit der Folge, billige chinesische Sklavenarbeiter importieren zu müssen und auf diese Weise die Lepra einzuschleppen. Koolau und seine dreißig Männer und Frauen verstehen nicht, daß man sie ihres Bodens berauben und in das Gefängnis der fernen Leprastation werfen darf. Die Verstümmelten und Entstellten, »Ausrutscher und Verirrungen eines wahnsinnigen Gottes, der an der Maschinerie des Lebens herumgespielt« hatte, in deren »verwesenden Körpern immer noch das Leben liebte und sich sehnte«, ziehen sich in unwegsames Gelände zurück, trotzen den Angriffen der Soldaten, werden aber schließlich auf brutale Weise in die Knie gezwungen. Bis auf den schußgewaltigen Koolau, einen ehemaligen Cowboy, geben die Überlebenden auf. Koolau hält sich noch zwei Jahre lang im unwegsamen Gebirge, dann stirbt er, sich an die »Unversehrtheit seiner ungezügelten Jugend« erinnernd, aber immerhin in Freiheit.

London griff mit »Koolau, der Aussätzige« auf die Historie Hawaiis zurück. Es war übrigens der Vater seines Begleiters Bert Stolz, der auf Kauai, wo die Geschichte spielt, als Deputy Sheriff beim Versuch, die Leprakranken wieder einzufangen, getötet wurde. Eine typische Jack London-Story also, in deren Mittelpunkt der heldenhaft kämpfende einzelne steht, der am Leben und an der Freiheit hängt, der allem trotzt, aber schließlich doch - Opfer der »Verirrungen eines wahnsinnigen Gottes« - unterliegt.

Wenn die Alaskaerzählungen den Kampf des vitalen Individuums gegen die Erstarrung des Eises dramatisieren, tragen die Südseegeschichten auch noch die Handschrift des Sozialisten London, der in den Mittelpunkt von »Leb wohl, Jack« und »Der Sheriff von Kona« Weiße - Amerikaner -stellt: sie gehören zur administrativen und gesellschaftlichen Elite Hawaiis, sie glauben sich als Herren gegen die Lepra gefeit. Sozialkritik also? So scheint es zunächst. »Der Sheriff von Kona« etwa ist eine Rahmenerzählung, die auf der paradiesischen Insel Hawaii spielt, dem »Land immerwährender Stille«. Der Binnenerzähler, ein junger Amerikaner, seit achtzehn Jahren hier, berichtet von einem auf der Insel geborenen, kerngesunden Supermann, dessen Optimismus nie zu erschüttern war. Als der Sheriff ein versteckt gehaltenes leprakrankes Mädchen suchen läßt, spricht ihm deren Bruder das Recht dazu ab: er selbst sei - und das stimmt, er weiß es nur nicht - von der Krankheit befallen. Damit rückt die eigentliche Lepra-Problematik in den Hintergrund: im Zentrum der Geschichte steht die psychologisch packende Zeichnung eines scheinbar in sich ruhenden Menschen, dessen Sicherheit urplötzlich zusammenbricht. Zwar weiß London mit der Befreiung des ehemaligen Sheriffs durch wagemutige Freunde - der Erzähler wird dabei von einem Leprakranken in die Hand gebissen, wartet sieben Jahre lang auf die Krankheitssymptome - doch noch ein gehöriges Maß an abenteuerlicher Spannung in die Geschichte zu bringen. Aber der Schwerpunkt liegt auf den psychischen Reaktionen, und das auf die gleiche Weise wie in »Leb wohl, Jack«. Jack Kersdale, Missionarssohn, mit Universitätsstudium in Yale, erfolgreicher Kaufmann, Zuckerplantagenbesitzer, Millionär, ein physischer und intellektueller Supermann, immer mit dem Lächeln absoluter Selbstsicherheit: er weiß genauestens über die Lepra Bescheid, und er rechtfertigt, mit den bereits genannten Gründen, die Politik der Ausgrenzung. Als ihm ein wunderschönes polynesisches Mädchen, in das sich viele Weiße verliebt hatten, eine Sängerin mit einer himmlischen Stimme, von Deck aus ihr Lebewohl zuruft, bricht Kersdale - wie der Sheriff von Kona - zusammen: hatte er doch nichts von ihrer Krankheit gewußt. Auch hier spürt man die Sozialkritik Londons, aber die Bemerkung des Ich-Erzählers, »daß wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind«, deutet auf eine tiefere Aussagedimension. Auch in den Südseegeschichten geht es, wie in den Alaskaerzählungen, um den Kampf des Individuums gegen die Erstarrung des Todes. Aber während im Norden Schnee und Eis allgegenwärtig sind, ist Hawaii ein Paradies, in dem Siechtum und Tod durch die Lepra ausgegrenzt zu sein scheinen. Und das Erschrecken, dem Tod wider Erwarten ganz nahe zu sein, ließ sich in den »rein fiktiven Geschichten«, wie London sie einem Freund gegenüber bezeichnete, sehr viel eindringlicher darstellen als mit manch anderem Motiv.

Andererseits kann London trotz allem das Unrecht der Klassengesellschaft darstellen, den unerträglichen gesellschaftlichen Snobismus der Weißen brandmarken. So etwa in der Geschichte »Das Haus des Stolzes«: Sie handelt von dem sich seines »überlegenen Geistes, seines großen Reichtums und des hohen Ranges, den er in der Geschäftswelt Hawaiis einnahm«, sicheren Sohn eines englischen Missionars, der sich wie ein Musterbeispiel puritanischer Selbstgerechtigkeit ausnimmt und auf alles und jeden herabschaut. Dieser selbsternannte geistige Aristokrat muß urplötzlich erfahren, was alle wissen: daß Joe Garland, zur Hälfte von Eingeborenen abstammend, den er überall aus Gründen der Moral verfolgt, in Wahrheit sein Halbbruder ist.

Auch hier der Sturz: »Es war, als habe er plötzlich erfahren, daß sein Vater ein Aussätziger gewesen sei und daß er auch in seinem eigenen Blut den Keim dieser schrecklichen Krankheit mit sich herumtragen könnte.« Aber Percival Ford kleistert sich, ohne viel zu überlegen, eine Rechtfertigung zusammen: Der Vater, ein Missionar, war zwar schon auf dem richtigen Weg, aber erst Percival hat auf der Leiter der moralischen Evolution eine höhere Stufe erklimmen können. Dem weißen Rassisten fallen also, so zeigt London eindringlich, beizeiten die passenden Argumente ein, und er kann sich dann auch noch des Geldes bedienen, um den an den Fehltritt des Vaters erinnernden Halbbruder aus dem Land zu verbannen.

Die Faszination, die vom Thema Lepra ausging, hatte zweifellos für den während seiner letzten Lebensjahre körperlich gezeichneten London auch persönliche Gründe. Aber jenseits der gesellschaftskritischen Aspekte ist doch auch der Zusammenhang mit den Alaskaerzählungen unübersehbar.

Die vermeintlichen Herren - die moralischen, intellektuellen, physischen Supermenschen - müssen erfahren, daß sie mitten im Leben bereits mit dem Tod konfrontiert sind. In dieser Hinsicht ähneln sie jenem einsamen Helden in Londons Meistererzählung »Feuermachen«, deren zweite und endgültige Version nicht zufälligerweise während der Reparatur der Snark entstand. Auch wenn London häufig aus finanziellen Gründen vieles zu schnell, ohne zu korrigieren, ohne zu überarbeiten, niederschrieb: wenn man genauer liest, tun sich Zusammenhänge auf, die in einer integrierten »Philosophie des Lebens« gründen. Das gilt auch für jene Südseegeschichten, die nicht auf einer der Inseln Hawaiis spielen, die aber Londons Ernüchterung über die Zerstörung jener paradiesischen Welt offenbaren, die er aus der Lektüre Melvilles in Erinnerung hatte: Während die Bewohner der Marquesas einst ihre Feinde kannibalisch zu verspeisen pflegten, sind sie nunmehr selbst zum kannibalischen Opfer der durch die Weißen eingeschleppten Mikroorganismen geworden, »von denen sie jetzt gefressen werden« (London schrieb später auch einen Science-fiction-Roman zum Thema der Vernichtung der Menschheit durch Mikroorganismen -The Scarlet Plague, 1915). Gefressen werden sie - so machen andere Südseegeschichten wie die hier nicht aufgenommenen Titel »The Terrible Solomons« oder »Mauki« deutlich - im übertragenen Sinn von den weißen Eroberern.