„Nur ruhig!“ sagte Taran. „Wir lassen dich nicht im Wald zurück, und niemand wird dir den Kopf abschlagen, weder ich noch sonst jemand.“
Taran wußte, daß Gurgi im Grunde genommen recht hatte. Wenn sie ihn mitnahmen, würde er ihnen nur hinderlich sein. Gewiß war ein rascher Tod besser für ihn, als wenn er den Kriegern Arawns in die Hände fiel. Dennoch konnte der Junge sich nicht dazu überwinden, das Schwert zu ziehen. „Du kannst zusammen mit Eilonwy auf Melyngar reiten“, sagte er, hob Gurgi auf die Füße und schlang sich einen seiner behaarten Arme um die Schultern. „Los nun, schön vorsichtig Schritt für Schritt!“ Taran war ziemlich erschöpft, als sie bei Fflewddur und Eilonwy ankamen. Das Mädchen hatte sich in der Zwischenzeit merklich erholt und plauderte schneller als je zuvor. Während Gurgi still im Gras lag, teilte Taran die Honigwabe auf. Die einzelnen Stücke waren erbärmlich klein.
Fflewddur zog Taran beiseite. „Dein struppiger Freund ist auf dem besten Wege, die Dinge noch schwieriger zu machen, als sie ohnehin schon sind“, flüsterte er. „Wie lang, meinst du, wird Melyngar mit zwei Reitern durchhalten?“
„Das ist wahr“, sagte Taran. „Und doch sehe ich keine andere Möglichkeit. Würdest du Gurgi im Stich lassen? Könntest du ihm den Kopf abschlagen?“
„Selbstverständlich!“ rief Fflewddur. „Kriegsglück ist launisch, da gibt es für einen Fflam nichts zu überlegen. „Oh, verdammt noch mal! Hörst du, schon wieder ist eine Saite hin! Noch dazu eine dicke!“
Als Taran zurückging, um die Waffen neu zu verteilen, erlebte er eine Überraschung. Neben seinem Mantel lag auf dem Waldboden ein großes Eichenblatt, und auf dem Blatt lag ein Stückchen Bienenwabe, der Anteil Gurgis.
„Für den edlen, barmherzigen Herrn“, murmelte der Tiermensch. „Gurgi ist satt, er hat heute keinen Hunger.“ Taran blickte ihm ins Gesicht. Es war das erstemal, daß sie einander anlächelten.
„Ich danke dir“, sagte der Junge gerührt. „Aber du wirst deine Kräfte noch brauchen können. Behalte darum deinen Anteil, du hast ihn verdient!“ Damit legte er Gurgi den Arm um die Schulter, und mit einemmal empfand er den Geruch nach feuchtem Wolfshund bei weitem nicht mehr so abstoßend wie zuvor.
12. Die Wölfe
Während des Tages glaubte Taran eine Zeitlang allen Ernstes, sie hätten die Kesselkrieger abgeschüttelt; doch am späten Nachmittag tauchten die beiden Verfolger hinter einem entfernten Waldsaum wieder auf. Im Schein der Abendsonne reichten ihre langen Schatten über den Berghang herab bis in die Ebene, wo Taran und seine Gefährten sich mühsam vorwärtsquälten. „Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen“, sagte der Junge und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Am besten, wir tun es gleich. Mit ein wenig Glück könnten wir sie so lange aufhalten, bis Eilonwy und Gurgi in Sicherheit sind. Damit wäre schon viel gewonnen.“ Gurgi, der quer über Melyngars Rücken hing, stieß sofort einen lauten Schrei aus. „Nein, nein! Gurgi bleibt bei dem mächtigen Herrn, der ihm das zarte Haupt gerettet hat! Der dankbare Gurgi will kämpfen – mit Hauen und Stechen und Knochenbrechen!“
„Deine Gefühle in Ehren“, meinte Fflewddur. „Aber mit deinem verwundeten Bein wirst du uns wenig nützen können.“
„Auch ich laufe nicht davon!“ sagte Eilonwy. „Soll ich mir wegen der Kesselkrieger etwa die Seele aus dem Leib rennen? Fällt mir gar nicht ein!“ Sie glitt aus dem Sattel und schnappte sich einen Bogen und eine Handvoll Pfeile.
„Eilonwy! Halt!“ rief Taran. „Bist du wahnsinnig? Diese Burschen kann man nicht töten, sie sind unbezwingbar!“ Obgleich das lange Schwert sie behinderte, war Eilonwy schneller als der Junge. Sie rannte auf die Kuppe eines kleinen Hügels und spannte den Bogen. Die Kesselkrieger stürmten über die Ebene heran, ihre blanken Schwerter blitzten in der Sonne.
Taran packte das Mädchen am Gürtel und versuchte es wegzuzerren. Er bekam einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.
„Mußt du dich überall einmischen?“ fauchte Eilonwy. Bevor er sie daran hindern konnte, richtete sie einen der Pfeile gegen die Sonne und murmelte einen Zauberspruch. Dann schoß sie den Pfeil auf die Kesselkrieger ab. Er fuhr zischend durch die Luft und beschrieb einen flachen Bogen. Als er sich niedersenkte, lösten sich aus seinem Schaft lange silbrige Streifen. Im nächsten Augenblick hing eine mächtige, glitzernde Spinnwebe in der Luft, die langsam auf die Reiter zutrieb. Fflewddur, der gleichfalls herbeigeeilt war, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Großer Belin, was ist das?“ schrie er. „Es sieht aus wie ein Netz von Silber!“ Die Kesselkrieger schenkten der Spinnwebe, die sich langsam auf sie herabsenkte, keine Beachtung. Sie spornten die Pferde an, das silberne Netz zerriß, die Fäden schmolzen dahin wie Rauhreif an der Sonne. Eilonwy war den Tränen nahe. „Zu dumm!“ rief sie. „Bei Achren sind es klebrige, unzerreißbare Stricke gewesen. Wie hat sie das nur gemacht? Ich muß etwas Wichtiges übersehen haben, alles ist schiefgegangen!“ Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf und wandte sich ab. „Bring sie hier weg!“ rief Taran dem Barden zu. Das Schwert ziehend, trat er den Kesselkriegern entgegen. Gleich mußten sie über ihn herfallen! Doch da geschah etwas Seltsames: Plötzlich schwankten die Reiter, dann zügelten sie die Pferde, machten auf der Hinterhand kehrt und ritten zurück, woher sie gekommen waren.
„Großartig!“ rief der Barde begeistert. „Großartig, Eilonwy! Siehst du, es hat also doch geklappt!“
Eilonwy schüttelte traurig den Kopf. „Irgendwas hat sie abgehalten“, gestand sie, „aber es war nicht mein Zauberspruch.“ Mißmutig ließ sie den Bogen sinken und las die Pfeile auf, die ihr zu Boden gefallen waren.
„Ich glaube zu wissen, was es gewesen ist“, meinte Taran. „Gwydion hat mir gesagt, daß sie nicht allzulang von Annuvin wegbleiben können. Seit sie von Spiral Castle weggeritten sind, müssen ihre Kräfte ständig nachgelassen haben – und nun waren sie an die äußerste Grenze gelangt.“
„Hoffentlich sind sie so schwach, daß sie es nicht bis nach Hause schaffen!“ rief Eilonwy. „Mögen sie doch in Stücke zerfallen oder wie Fledermäuse zusammenschrumpeln!“
„Ich fürchte, das werden sie nicht tun“, sagte Taran und blickte den Reitern nach, die langsam hinter den Hügeln verschwanden. „Sie scheinen genau zu wissen, wie weit sie sich von Annuvin entfernen dürfen. Nun, Hauptsache, daß wir sie los sind!“ Er warf einen anerkennenden Blick auf Eilonwy und fuhr fort: „Dein Pfeilzauber kann sich sehen lassen! Gwydion hatte ein Netz von Gras, das in Flammen aufging, als er es in die Luft warf; aber dein Silbergespinst war besser.“
Eilonwy schaute ihn verwundert an, ihre Wangen glühten rot wie die untergehende Sonne. „Nanu!“ rief sie. „Das ist das erste freundliche Wort, das ich von dir höre, Taran!“ Dann machte sie plötzlich schmale Augen und schnaubte: „Das Silbernetz hat dir gefallen, ja? Daß ich in Gefahr war, scheinst du kaum bemerkt zu haben.“ Hochmütig schritt sie zurück zu Gurgi und Melyngar.
„Ist ja nicht wahr!“ rief Taran. „Ich … Ich hatte…“ Eilonwy stellte sich taub und lief weiter. Kopfschüttelnd folgte der Junge ihr nach. „Ich werde nicht schlau aus ihr“, gestand er dem Barden.
„Mach dir nichts draus“, tröstete ihn Fflewddur, „ich auch nicht.“
Während der Nacht hielten sie wieder abwechselnd Wache, obwohl sie nun, seit die Kesselkrieger verschwunden waren, weniger Grund zur Besorgnis hatten. Taran sollte Eilonwy als letzter in der Reihe ablösen. Da er vorzeitig aufgewacht war, schlug er ihr vor: „Leg dich schlafen, ich übernehme den Rest.“
„Nicht nötig“, erwiderte Eilonwy. „Was ich selbst tun kann, tu ich selbst.“ Offenbar war sie noch immer nicht gut auf ihn zu sprechen.
Taran nahm Bogen und Pfeile auf, lehnte sich an den Stamm einer Eiche und blickte auf die mondbeschienene Ebene hinaus. Wenige Schritte von ihm entfernt schnarchte Fflewddur aus voller Brust. Gurgi, dessen Bein noch immer dick angeschwollen war, wälzte sich unruhig hin und her und wimmerte leise im Schlaf. „Weißt du, Eilonwy“, begann der Junge zögernd, „dieses Silbernetz…“