13. Das verborgene Tal
Der Wolf stieß Taran zu Boden, ein anderer brachte den Barden zu Fall, ein dritter setzte zum Sprung auf das Mädchen an. Abermals wollte Taran zum Schwert greifen. Da packte der graue Wolf seinen Arm. Die Zähne des Tieres drangen ihm nicht ins Fleisch, doch sie hielten ihn eisern fest.
Von Melyngar gefolgt, tauchte am Ende der Schlucht ein alter, in einen weiten Mantel gehüllter Mann auf. Er hob den Arm, rief den Wölfen einen Befehl zu. Unverzüglich gehorchten die Tiere und zogen sich ein paar Schritte zurück. Der alte Mann kam auf Taran zu. „Du hast uns das Leben gerettet“, sagte der Junge. „Hab Dank dafür!“ Von dem Fremden, der hochgewachsen und breitschultrig war, ging etwas von der Kraft eines alten, standhaften Baumes aus. Er hatte langes weißes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Der Bart hing ihm auf den Gürtel herab. Um die Stirn trug er ein schmales Goldband, das mit einem blauen Edelstein besetzt war. Seine Stimme klang tief und voll, aber nicht unfreundlich. „Sie hatten es nicht auf euer Leben abgesehen“, sagte er, auf die Wölfe deutend. „Dennoch müßt ihr diesen Ort verlassen, für Menschen ist keine Bleibe hier.“
„Wir haben uns in den Bergen verirrt“, sagte Taran. „Unser Roß hat uns hergeführt.“
„Melyngar?“ Der Alte musterte Taran aus grauen, frostklaren Augen. „Nun ja, wenn ihr Melyngars Freunde seid … Es ist doch Melyngar – oder? Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich.“
„Und Ihr?“ rief Taran. „Ihr seid Medwyn!“
„So nennt man mich“, sagte der Alte lächelnd.
„Doch woher weißt du das?“
„Ich bin Taran von Caer Dallben“, antwortete der Junge. „Fürst Gwydion aus dem Hause Don, mein Gefährte, hat mir vor seinem Tode von Euch erzählt. Er wollte nach Caer Dathyl, dorthin wollen auch wir jetzt. Wie gut, daß wir Euch gefunden haben! Das hätte ich nie zu hoffen gewagt.“
„Und mit Recht“, antwortete Medwyn. „Du selbst konntest mich gar nicht finden. Melyngar hat euch zu mir geführt, nur die Tiere kennen mein Tal und den Weg hierher. Wie nennst du dich übrigens? Taran? Von Caer Dallben?“ Er legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Sieh mal an! Du bist nicht der erste Besucher hier, der von Caer Dallben kommt.“
Taran spürte, wie es ihm einen Stich gab. „Hen Wen?“ rief er.
Medwyn schaute ihn verwundert an. „Suchst du etwa Hen Wen? Das ist merkwürdig … Nein, sie ist nicht bei mir.“
„Aber ich hatte gedacht…“
„Später mehr davon!“ schlug der Alte vor. „Euer Freund Gurgi ist übel dran, wie ich sehe. Ich will für ihn tun, was in meiner Kraft steht. Kommt nun und folgt mir!“ Die Wölfe trotteten lautlos hinter Taran, Eilonwy und dem Barden her. Melyngar erwartete sie am Ende der Schlucht, und Medwyn hob den fiebernden Gurgi, der sich ihm zutraulich in die Arme schmiegte, vom Sattel. Nun schritten sie einen schmalen Pfad hinab. Medwyn war barfuß, die scharfen Steine und Kiesel schienen ihn nicht zu stören. Der Pfad machte einen jähen Knick und gleich noch einen. Dann gelangten sie durch ein enges Felsentor in ein grünes, sonniges Tal. Unüberwindlich erscheinende Berge umgaben es von allen Seiten wie Mauern. Die Luft war hier leicht und angenehm, nicht der leiseste Wind ging. Der Boden war über und über von dichtem, saftigem Rasen bedeckt. Zwischen hohen Schierlingstannen schimmerten zwei, drei niedrige weiße Hütten hervor, nicht viel anders als jene von Caer Dallben. Als Taran sie zu Gesicht bekam, spürte er einen Anflug von Heimweh.
Hinter den Hütten befand sich ein kleiner Hügel, zu dessen Füßen der Junge etwas erblickte, was sich auf den ersten Blick wie eine Reihe moosbedeckter Baumstämme ausnahm. Als er näher hinschaute, erkannte er zu seiner Überraschung das verwitterte Gerippe eines gewaltigen Schiffes. Balken und Spanten waren zum Großteil von Erde bedeckt, aus der Gräser und Wiesenblumen hervorsprossen. „Ich muß sagen, der Alte hat sich da einen verdammt guten Schlupfwinkel ausgesucht“, flüsterte Fflewddur Fflam. „Ich allein hätte niemals hierhergefunden; und ich bezweifle auch, daß ich jemals wieder hinausfinde.“
Taran nickte. Dies war das lieblichste Tal, das er je gesehen hatte. Friedlich graste das Vieh auf den Wiesen. Unweit der Schierlingstannen blinkte ein kleiner See in der Sonne, buntgefiederte Vögel wiegten sich im Geäst der Bäume; und während er über den fetten Rasen schritt, merkte der Junge, wie die Erschöpfung aus seinen Gliedern wich.
„Ein Rehlein!“ rief Eilonwy freudig aus. Hinter den Hütten kam auf langen Beinen ein Rehkitz hervor, hob witternd den Kopf und trabte dann schnell zu Medwyn. Vor den Wölfen schien sich das zierliche Tier nicht zu fürchten. Auch die anfängliche Scheu vor den fremden Menschen überwand es rasch, und schon schnupperte es an Eilonwys Hand. „Wie lieb es ist!“ sagte das Mädchen. „Bei Achren gab es keine kleinen Tiere, sie hätten es dort nicht ausgehalten – und kann man es ihnen übelnehmen?“ Medwyn hieß seine Gäste warten und trug Gurgi in die Wohnhütte. Die Wölfe saßen sprungbereit auf den Hinterläufen und beobachteten die Fremden aus schrägen Augen. Taran sattelte Melyngar ab. Sogleich begann Gwydions Roß das zarte Gras abzurupfen. Ein halbes Dutzend Hühner gluckte und pickte im Schatten der Bäume umher, der Hahn hob den Kopf und prahlte mit seinem Kamm.
„Dalibens Hühner!“ rief Taran. „Sie müssen es sein! Die schwarze Henne, die beiden braunen, die weißen – und dort unser Gockel!“ Er eilte hinüber zu ihnen und machte: „Put, put, put!“ Die Hühner ließen sich nicht stören, sie beachteten ihn kaum. Medwyn erschien wieder in der Tür seiner Hütte. Er trug in der einen Hand einen Krug voll Milch, in der anderen einen großen Weidenkorb, der mit Käse, Honigwaben und allerlei Früchten gefüllt war. „Ich muß mich um Gurgi kümmern“, sagte er. „Wenn es euch recht ist, könnt ihr inzwischen hier draußen essen.“ Dann erblickte er Taran bei den Hühnern und meinte: „Du hast sie also gefunden, meine Besucher aus Caer Dallben? Auch ein Bienenschwarm muß hier irgendwo in der Nähe sein …“
„Sie sind weggeflogen“, sagte Taran, „an jenem verwünschten Tag, als Hen Wen davonlief.“
„Sie haben hier Zuflucht gesucht“, erklärte der Alte. „Die armen Hühnchen sind ganz außer sich gewesen vor Furcht. Nun, sie haben sich rasch bei uns eingelebt, wie du siehst. Man weiß ja, wie Hühner sind: Gerade noch tun sie, als ginge die Welt unter – und schon picken sie wieder Körner auf. Keine Sorge! Sobald ihre Zeit gekommen ist, werden sie alle nach Caer Dallben zurückfliegen. So lang müssen sich Dallben und Coll eben ohne Eier begnügen. Ich hätte euch gern zu mir in die Stube gebeten“, fuhr Medwyn fort. „Aber ich hatte einige Bären zum Frühstück da, und ihr könnt euch vermutlich vorstellen, wie es nun bei mir aussieht. Deshalb ist es am besten, ihr speist hier draußen. Wenn ihr euch ausruhen wollt, im Schuppen gibt’s Heu genug. Hoffentlich seid ihr euch nicht zu fein dazu.“
Taran und seine Gefährten ließen sich das nicht zweimal sagen. Nachdem sie sich an Medwyns Speisen gütlich getan hatten, suchten sie den Schuppen auf und kuschelten sich ins Heu. Dabei entdeckten sie einen von Medwyns Frühstücksgästen, der zusammengerollt in einer Ecke des Schuppens schlief. Fflewddur wollte zunächst dem Frieden nicht trauen; bald jedoch kam er zu der Überzeugung, daß der Bär keinerlei Appetit auf wandernde Barden hatte, und wenig später begann er zu schnarchen. Auch Eilonwy schlief ohne große Umstände ein.
Taran indessen hatte kein Verlangen nach Ruhe. Seit er Medwyns Tal betreten hatte, fühlte er sich frisch und gestärkt wie nach langer friedlicher Nachtruhe. So verließ er den Schuppen wieder und schlenderte über die Wiese. Unweit der Hütten entdeckte er einen Blumen und einen Gemüsegarten, und zu seiner Überraschung ertappte er sich alsbald bei dem Gedanken, wie schön es wäre, wenn er jetzt mit Coll daheim im Gemüsegarten arbeiten könnte. Früher hatte er nie viel vom Jäten und Hacken gehalten; doch wenn er bedachte, was er auf dieser Reise schon alles erlebt hatte und vermutlich noch weiter erleben würde, erschien ihm die Gartenarbeit in neuem Licht.