„Dann soll es so sein!“ antwortete Medwyn und legte dem Jungen die Hand auf den Scheitel. „Ich gewähre dir alles, was du mir dir zu gewähren erlaubst: eine Nacht voll Ruhe und Frieden. Schlaf nun gut!“ Taran konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er in den Schuppen zurückgekommen und an seinen Platz gelangt war. Aber am anderen Morgen erwachte er frisch und gestärkt.
Eilonwy und der Barde hatten schon mit dem Frühstück angefangen. Zu seiner Freude entdeckte der Junge, daß Gurgi bei ihnen saß. Gurgi stieß einen Freudenschrei aus, als er Taran erblickte, und schlug ein paar Purzelbäume.
„O Jubel!“ schrie er. „Der fröhliche Gurgi ist bereit zu neuem Wandern und Streifen und Durchdie-Wälder-Schweifen! O ja! Und zu neuen Kämpfen und Heldentaten! Wie gut sind die edlen Herren zum glücklichen, dankbaren Gurgi gewesen!“ Taran merkte, daß Medwyn nicht nur Gurgis Bein geheilt hatte; er hatte ihm auch ein Bad zukommen lassen und ihn gründlich gekämmt. Der Tiermensch sah nicht mehr halb so zerzaust und struppig aus wie zuvor. Und später dann, als der Junge Melyngar aufzäumte, stellte er fest, daß Medwyn die Satteltaschen mit frischen Vorräten gefüllt und jedem von ihnen einen warmen Mantel hinzugepackt hatte. Der alte Mann versammelte die Reisenden um sich und erklärte ihnen: „Das Heer des Gehörnten Königs ist euch nun um einen ganzen Tagesmarsch voraus. Wenn ihr den Weg durch die Berge einschlagt, den ich euch zeigen werde, könnt ihr die versäumte Zeit leicht aufholen – ja, es ist sogar möglich, daß ihr Caer Dathyl um einen oder zwei Tage früher erreicht als der Feind. Aber ich warne euch, die Gebirgspfade sind nicht ungefährlich. Wenn es euch lieber ist, kann ich euch auch einen anderen Weg zeigen, der hinausführt ins Tal des Ystrad.“
„Dann könnten wir dem Gehörnten König schwerlich zuvorkommen“, sagte Taran. „Es wird in den Bergen schon nicht so schlimm sein …“
„Ein Fflam wächst mit jeder Gefahr!“ rief der Barde dazwischen. „Laßt es Felsen sein oder die Kriegsleute des Gehörnten Königs: ich fürchte nichts und niemand auf dieser Welt – bis zu einem gewissen Grade“, fügte er mit einem Seitenblick auf die Harfe rasch hinzu. Auch Eilonwy war dafür, den Weg durchs Gebirge zu nehmen.
„Diesmal muß ich euch ausnahmsweise recht geben“, meinte sie. „Die Berge werden jedenfalls keine Speere auf uns schleudern, gleichgültig, wie gefährlich sie sonst auch sind.“
„Gut, dann hört zu“, sagte Medwyn und ließ sich auf dem Boden nieder. Während er sprach, formte er aus der lockeren Erde ein kleines Abbild der Berge, anhand dessen er ihnen den Weg beschrieb. Als er geendet hatte und das Gepäck und die Waffen der Reisenden auf Melyngars Rücken verstaut waren, führte er die Gruppe wieder hinaus aus dem Tal. Taran versuchte sich jeden Schritt genau einzuprägen, doch wußte er, daß es zwecklos war. Sobald der Alte sie verlassen hatte, würde für sie auch der Pfad zu seinem Tal verschwunden sein, als ob es ihn nie gegeben habe.
Nach einer Weile hielt Medwyn an. „Laßt uns hier Abschied nehmen“, sagte er. „Ob du recht gewählt hast, Taran von Caer Dallben, mußt du mit deinem Herzen ausmachen. Vielleicht werden wir uns eines Tages wiedersehen, dann kannst du es mir ja sagen. Lebt wohl!“ Ehe Taran sich umdrehen konnte, um ein Wort des Dankes zu sagen, war der weißbärtige Mann verschwunden, und die Wanderer standen allein auf einer kahlen, felsigen Hochfläche, über die der Wind hinwegfegte. „Gut“, sagte Fflewddur und hängte sich die Harfe über die Schultern. „Sollten uns hier noch mehr Wölfe begegnen, so werden sie hoffentlich wissen, daß wir mit Medwyn befreundet sind.“
Der erste Tagesmarsch war nicht ganz so beschwerlich, wie Taran befürchtet hatte. Jetzt war er es, der die kleine Gruppe anführte; denn nachdem ein paar weitere Harfensaiten gerissen waren, hatte der Barde zugeben müssen, daß er doch nicht ganz in der Lage sei, Medwyns Anweisungen genau zu befolgen, da er nicht alle Einzelheiten behalten habe.
Bis zum Abend stiegen sie stetig bergan, und obwohl das Gelände rauh und zerklüftet war, fanden sie ohne Mühe den Pfad, den der Alte ihnen beschrieben hatte: an schäumenden Wildbächen entlang, durch Felsscharten, über schmale Grate hinweg. Die Luft war in diesen Höhen klar und von schneidender Kälte. Dankbar hüllten sie sich in die Mäntel ein, die sie von Medwyn bekommen hatten – nicht ohne guten Grund, wie sie nun erkannten.
Bei Einbruch der Dunkelheit gebot Taran an einer windgeschützten Stelle zwischen den Felsen Halt. Sie banden Melyngar an einem verkrüppelten Baum fest und schlugen ein Lager auf. Weil sie hier weder die Kesselkrieger noch die Heerhaufen des Gehörnten Königs zu fürchten brauchten, hatte Taran nichts dagegen, als Fflewddur vorschlug, ein Feuer anzumachen. Medwyns Vorräte brauchten zwar nicht gekocht zu werden, aber die Flammen spendeten Licht und Wärme. Als von den Höhen die Schatten der Nacht hereinbrachen, setzte Eilonwy ihre goldene Kugel als Lampe auf einen Felsvorsprung. Gurgi, der tagsüber keinen einzigen Laut des Jammers von sich gegeben hatte, hockte auf einem Steinblock zu Eilonwys Füßen und begann sich aus alter Gewohnheit das Fell zu kratzen, während der Barde wieder einmal seine Harfe flickte.
„Du schleppst sie mit dir herum, seit wir uns kennen“, sagte Eilonwy. „Und doch hast du uns noch nie etwas darauf vorgespielt! Weißt du, wie mir das vorkommt? Wie wenn einem jemand eine Geschichte verspricht – und wenn man sich dann zum Zuhören hinsetzt, macht er den Mund nicht auf.“
„Hätte ich etwa auf der Harfe klimpern sollen, während uns die Kesselkrieger auf den Fersen waren?“ erwiderte Fflewddur. „Meinem Gefühl nach hätte das schlecht zusammengepaßt. Aber ein Fflam fühlt sich stets geschmeichelt, wenn es jemand danach verlangt, seiner Kunst zu lauschen.“ Er setzte die Harfe an – und bevor er die Seiten noch richtig mit den Fingerspitzen berührt hatte, ertönte schon eine zarte Weise: so überaus schön und lieblich, daß Taran betroffen den Atem anhielt. Es war ihm, als singe die Harfe ein Lied, dessen Worte er nur zu gut verstand. Nach Hause, nach Hause! sang sie; und während er Fflewddurs Spiel lauschte, mußte er an die Felder und Wiesen von Caer Dallben denken, an die goldenen Nachmittage im Herbst und die frostkalten Wintermorgen mit ihrer blutroten Sonne über dem Schnee.
Dann verstummte die Harfe. Fflewddur saß da wie versteinert, den Kopf geneigt, einen verklärten Ausdruck auf dem Gesicht. „Nun, das war eine Überraschung“, meinte er schließlich. „Eigentlich wollte ich ja einen Kriegsgesang spielen, ein Kampflied, um euch für künftige Taten anzufeuern – und nun …“ Er zuckte die Achseln. „Um die Wahrheit zu sagen: Es liegt nicht an mir, was die Harfe spielt. Meine Finger gehen zwar über die Saiten hin, doch sie spielt, was sie will. Vielleicht“, fuhr er fort, „hat Taliesin etwas Bestimmtes im Sinn gehabt, als er sie mir zum Geschenk machte. Meine eigene Harfe nämlich, mit der ich zum Rat der Barden gegangen war, um mich prüfen zu lassen, war ein uraltes klappriges Ding, das ich daheim auf dem Dachboden gefunden hatte. Fragt mich nicht, wie jämmerlich es sich darauf gespielt hat! Nun ja, ein Fflam schaut einem geschenkten Gaul nicht ins Maul – und einer geschenkten Harfe schon gar nicht.“
„Es war eine traurige Weise“, sagte Eilonwy. „Aber das Merkwürdigste daran ist, daß sie mir trotzdem gefallen hat. Hinterher fühlt man sich so, als ob man sich wieder einmal gut ausgeweint habe. Ich mußte zurückdenken an das Meer und die Zeiten, da ich ein kleines Mädchen war.“ Bei diesen Worten räusperte sich Taran, doch Eilonwy schenkte ihm keine Beachtung. „Die Wellen branden gegen die Klippen an, sie verschäumen am Strand. Und draußen, soweit du sehen kannst, drängen sich Mähne an Mähne die Weißen Rosse von Llyr“, wie wir die Wogen nennen, die von der See heranrollen.“
„Merkwürdig“, sagte Fflewddur. „Was mich betrifft, habe ich an mein Schlößchen im Norden gedacht. Es ist klein und baufällig, aber ich würde es gern einmal wiedersehen. Mit der Zeit kann man selbst vom Wandern genug bekommen, versteht ihr. Vielleicht sollte ich mich eines Tages wieder dort niederlassen und den Versuch machen, eine Art halbwegs geachteter König zu werden.“