„Ich habe es ja bloß gut gemeint“, erklärte der Barde kleinlaut. „Ein Fflam, du weißt es, gibt niemals auf – und ich sehe nicht ein, warum es ein Unterirdischer tun sollte.“
Hen Wen war dem Jungen während des ganzen Tages nicht von der Seite gewichen. Als er nun seinen Mantel auf dem Boden ausbreitete, grunzte sie vor Wonne, kam herbeigewatschelt und kuschelte sich an seine Seite. Ihre Ohren entspannten sich. Sie lehnte den Kopf an Tarans Schulter und kicherte wohlgelaunt vor sich hin. Das Gewicht ihres Körpers machte es dem Jungen unmöglich, sich von ihr abzuwenden. Während sie genüßlich schnarchte, begann er sich auf eine schlaflose Nacht einzurichten. „Wie gut, dich zu spüren, Hen“, dachte er. „Und wie gut, daß du glücklich bist. Aber ich wünschte, du machtest halb soviel Aufhebens davon!“
Am nächsten Morgen kehrten sie dem Gebirge den Rücken und schlugen die Richtung nach Caer Dathyl ein. Wieder einmal mußte Taran an Gwydion denken. Was hatte er wohl von Hen Wen zu erfahren gewünscht? Als sie das nächstemal rasteten, sprach er mit Fflewddur darüber.
„Vielleicht gibt es in Caer Dathyl jemanden, der sich darauf versteht, sie zu befragen“, meinte er. „Schade, daß wir sie nicht selbst zum Reden bringen können. Ich bin überzeugt, sie hätte uns eine Menge wichtiger Dinge zu sagen.“
Der Barde pflichtete ihm bei. Zu dumm, daß sie keine geeigneten Runenstäbe zur Hand hatten! „Vielleicht kann ich sie trotzdem zum Sprechen bringen“, bot sich Eilonwy an. „Achren hat mir allerlei Beschwörungsformeln beigebracht. Möglich, daß uns eine davon weiterhilft.“
Damit ließ sie sich neben Hen Wen auf dem Rasen nieder und begann auf sie einzuflüstern. Hen hörte ihr eine Zeitlang freundlich zu, lachte dabei und grunzte, gab jedoch mit keiner Miene zu verstehen, daß sie auch nur ein Wort von dem, was das Mädchen sagte, begriffen habe. Schließlich machte sie sich mit fröhlichem Quieken von Eilonwy los und rannte zu Taran zurück. „Alles zwecklos“, sagte der Junge. „Hoffentlich haben sie Runenstäbe in Caer Dathyl. Aber ich fürchte, daß Dallben der einzige Mann in Prydain ist, der welche besitzt.“
Nach kurzer Rast brachen sie auf und wanderten weiter. Doli führte sie auf eine Lichtung hinaus und an einer Reihe von Erlen entlang. Dann hielt er mit einemmal an und hob lauschend den Kopf.
Auch Taran hatte das Geräusch vernommen: ein zartes, hohes Weinen, das aus einem verfilzten Dornbusch zu kommen schien. Sein Schwert ziehend, eilte er darauf zu.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Was da wimmernd im Dornbusch hing, war – ein Gwythaint.
17. Der Findling
Der Gwythaint hing in den Dornen wie ein zerknitterter schwarzer Fetzen. Er war nicht viel größer als ein Rabe, sehr jung noch und kaum aus der ersten Mauser heraus. Der Kopf schien für seinen Körper ein wenig zu groß zu sein, die Federn waren noch dünn und struppig. Als Taran sich vorsichtig näherte, versuchte der Gwythaint, sich aus dem Busch zu befreien; doch es gelang ihm nicht. Da öffnete er den krummen Schnabel und stieß ein warnendes Zischen aus. Seine Augen blickten stumpf und waren halb geschlossen. Die Gefährten waren Taran gefolgt. Als Gurgi den Gwythaint erkannte, zog er den Kopf ein und verkroch sich schaudernd in den Büschen. Melyngar wieherte ängstlich auf. Das weiße Schwein indessen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es setzte sich auf die Hinterbacken und schaute freundlich in die Runde.
Fflewddur pfiff beim Anblick des Vogels kurz durch die Zähne. „Ein Glück, daß die Alten nicht da sind“, sagte er. „Bei Gefahr für die Jungen reißen die einen ausgewachsenen Mann in Stücke.“
„Der kleine Gwythaint erinnert mich an Achren“, sagte Eilonwy. „Sie hatte genau solche Augen – besonders an Tagen, an denen sie schlecht gelaunt war.“
Doli löste die Axt vom Gürtel. „Was hast du vor?“ fragte Taran.
Der Zwerg blickte ihn verwundert an. „Was ich vorhabe? Dumme Frage! Dem schlag’ ich den Kopf ab!“
Taran packte den Zwerg am Arm. „Nein!“ rief er. „Siehst du nicht, daß er verwundet ist?“
„Tut er dir etwa leid?“ knurrte Doli entrüstet. „Wäre er nicht verwundet, so stünden wir jetzt nicht hier, weder du noch ich.“
„Ich will nicht, daß er getötet wird“, sagte Taran mit fester Stimme. „Er ist in Not und braucht Hilfe.“
„Recht hast du“, pflichtete ihm das Mädchen bei. „Wir müssen uns seiner annehmen, er sieht elend aus.“
Doli schleuderte die Axt zu Boden und stemmte die Arme in die Hüften. „Ich kann mich nicht unsichtbar machen“, raunzte er, „aber ein Narr bin ich trotzdem nicht. Los doch, hilf diesem grauslichen kleinen Ding! Gib ihm zu trinken, verbinde ihm die Wunden! Du wirst schon sehen, was dabei herauskommt. Sobald es ihm ein wenig bessergeht, wird es auf schnellstem Weg zu Arawn fliegen – und was weiter mit uns geschieht, kann sich jeder an seinen Fingern abzählen.“
„Was Doli gesagt hat, ist leider nur allzu wahr“, meinte Fflewddur Fflam. „Ich für meine Person finde zwar wenig Geschmack daran, jemandem den Kopf abzuhacken – aber was sein muß, muß sein. Weshalb sollten wir einem von Arawns Spionen Mitleid erweisen?“
„Darüber denkt Medwyn anders“, antwortete der Junge. „Außerdem scheint es mir wichtig zu sein, diesen Vogel nach Caer Dathyl zu bringen. Niemand hat je einen Gwythaint lebend gefangen, soweit ich weiß. Vielleicht könnte er uns von Nutzen sein.“
Der Barde kratzte sich am Kopf. „Nun ja, wenn er uns überhaupt etwas nützen kann, dann wohl eher lebend als tot. Trotzdem erscheint mir die Sache ziemlich gewagt.“
Taran gebot den Freunden, ein wenig zurückzutreten. Er sah, daß der Gwythaint verwundet war, jedoch keineswegs nur von Dornen. Hatte vielleicht ein Adler ihn angegriffen? Behutsam trat Taran näher. Wieder zischte der Gwythaint, dann drang ein langes, heiseres Rasseln aus seiner Kehle. „Hoffentlich stirbt er nicht!“ dachte der Junge und schob seine Hand unter den fiebernden Körper. Der Gwythaint versuchte sich mit Schnabel und Krallen zur Wehr zu setzen; doch er war schon zu matt dazu. Taran befreite ihn aus den Dornen und sagte zu Eilonwy: „Ich gehe jetzt ein paar Kräuter holen. Sorge einstweilen für heißes Wasser!“
Während das Mädchen ein Nest von Gras und Blättern herrichtete, mußte Gurgi Feuer anmachen und einen Kessel mit Wasser darüberhängen. Unterdessen begab sich Taran, von Hen Wen gefolgt, auf die Kräutersuche. „Wie lang sollen wir hier denn bleiben?“ schimpfte der Zwerg ihm nach. „Nicht, daß mich’s störte! Ihr seid es ja, die es eilig haben, nicht ich. Aber trotzdem!“ Er hängte die Axt wieder an den Gürtel, zog die Mütze fest ins Gesicht und hielt wütend den Atem an. Wieder einmal war Taran dankbar dafür, daß Coll ihn in der Kräuterkunde unterwiesen hatte. Zum Glück wuchs das meiste, was er für seinen Absud benötigte, ganz in der Nähe. Hen Wen beteiligte sich eifrig an der Suche. Munter grunzend, schnüffelte sie zwischen Blättern und Steinen umher; und es gelang ihr tatsächlich, ein wichtiges Pflänzchen aufzustöbern, das Taran fast übersehen hätte. Der Gwythaint wehrte sich nicht dagegen, als der Junge ihm mit Eilonwys Hilfe einen Verband anlegte. Dann riß Taran sich ein Stück Stoff von der Jacke, tränkte es mit dem Kräutersud und träufelte ihn dem Vogel Tropfen um Tropfen in den Schnabel. „Alles ganz schön und gut“, brummte Doli. „Aber wie willst du das garstige Ding von hier wegbringen? Unterm Arm etwa – oder?“
„Ich weiß noch nicht“, sagte Taran. „Vielleicht sollte ich ihn in den Mantel wickeln.“
Doli verdrehte gequält die Augen. „Immer dasselbe!“ knurrte er. „Ihr großen Tölpel könnt nicht von da bis dort denken. Falls du von mir erwartest, daß ich dir einen Käfig baue, dann irrst du dich!“
„Ein Käfig wäre genau das richtige“, sagte Taran. „Doch sei unbesorgt, ich verzichte auf deine Hilfe, ich baue mir selber einen.“
Der Zwerg schaute Taran verächtlich zu, als er Ruten sammelte und daraus einen Käfig zu flechten versuchte. Schließlich riß ihm die Geduld, und er herrschte den Jungen an. „Aufhören! Aufhören mit der Pfuscherei! Mach mir mal Platz da!“ Er stieß Taran zur Seite, hockte sich auf den Boden nieder und griff nach den Ruten. Dann schabte er sie mit dem Messer glatt, verflocht sie kunstvoll miteinander – und im Handumdrehen war der Käfig fertig.