Hen Wen schlief gewöhnlich bis in die Mittagsstunden im Stall. Dann trottete sie in eine schattige Ecke ihres Geheges und ließ sich dort für den Rest des Tages gemütlich nieder. Meist führte sie unter ständigem Grunzen und Schnaufen endlose Selbstgespräche, und wann immer sie Taran erblickte, hob sie ihm ihren breiten Rüssel entgegen, um sich das Kinn kraulen zu lassen. Heute indessen schenkte ihm das weiße Schwein keinerlei Beachtung. Keuchend und pfeifend wühlte es in der hin tersten Ecke des Schweinegartens die Erde auf. Wollte Hen Wen etwa ausreißen?
Taran begann auf sie einzuschimpfen, aber sie ließ sich bei ihrer Wühlerei nicht stören. Erst als der Junge sich über den Zaun schwang, hielt das Orakelschwein einen Augenblick inne und schaute auf. Dann machte es kehrt, rannte in die entgegengesetzte Ecke des Geheges und begann dort aufs neue ein Loch zu graben. Taran war ein kräftiger Junge und hatte lange Beine. Doch zu seinem Erstaunen stellte es sich heraus, daß Hen Wen schneller war als er. Kaum hatte er sie beim zweiten Loch erreicht, da sauste sie auf ihren kurzen Beinchen zum ersten zurück.
Wie verrückt scharrte Taran die Erde wieder ins Loch. Aber Hen Wen grub schneller als ein Dachs, die Hinterfüße fest aufgestützt, wühlte sie mit den Vorderpfoten in höchster Eile drauflos. Taran sah ein, daß es zwecklos war, sie daran zu hindern.
Er kletterte abermals über den Zaun und lief zu der Stelle, wo Hen Wen aller Voraussicht nach auftauchen mußte. Sein Plan war es, sie zu packen und festzuhalten, bis Dallben und Coll zur Stelle waren. Aber auch diesmal unterschätzte er Hen Wens Flinkheit und Stärke. In einer Wolke von Kieselsteinen und Erdbrocken brach das Schwein unter dem Zaun hervor und schleuderte Taran in die Luft. Er überschlug sich ein paarmal und fiel zu Boden. Hen Wen sauste über die Felder davon, in den Wald hinein.
Der Junge folgte ihr kurz entschlossen nach. Dunkel und drohend wuchs der Wald vor ihm auf. Taran holte tief Atem und stürzte sich hinter Hen Wen ins Dickicht.
2. Die Maske des Königs
Hen Wen war verschwunden. Wenige Schritte vor sich hörte Taran ein Rascheln im Laub. Er war überzeugt davon, daß sie sich irgendwo im Gebüsch verborgen hielt. Dem Geräusch folgend, rannte er weiter. Nach einiger Zeit stieg der Boden steil an. Taran mußte auf allen vieren einen bewaldeten Hang hinaufklettern und kam an den Rand einer Wiese. Für einen Augenblick sah er Hen Wen durch das wogende Gras sausen. Dann verschwand sie jenseits der Wiese aufs neue im Wald. Taran eilte ihr nach. Nie zuvor hatte er gewagt, sich so weit von Caer Dallben zu entfernen. Verbissen kämpfte er sich durchs Gestrüpp. Bald stieß er auf einen einigermaßen breiten Pfad, der es ihm gestattete, schneller voranzukommen. Hen Wen war entweder irgendwo untergeschlüpft, oder sie hatte ihn abgeschüttelt. Er hörte jetzt bloß noch die eigenen Schritte. Da der Pfad in zahlreichen Krümmungen verlief und sich häufig verzweigte, wußte der Junge bald nicht mehr, woher er gekommen war.
Die Bäume standen nicht allzu dicht, aber sie waren in tiefe Schatten getaucht, nur wenige dünne, zitternde Sonnenstrahlen durchbrachen das Gewirr der Äste und Zweige. Ein dumpfer Geruch lag in der Luft. Kein Vogel ließ sich vernehmen, kein Eichhörnchen schwatzte. Und doch war das Dickicht von einer kaum hörbaren, seufzenden Unrast erfüllt. Weil es ihn fröstelte, schlug der Junge mit den Armen um sich und beschleunigte den Schritt. Nach einiger Zeit wurde ihm klar, daß er sich in der Wildnis verirrt hatte. Plötzlich war Hufschlag zu hören, der durch den Wald dröhnte. Kurz darauf brach ein schwarzes Roß aus dem Dickicht hervor.
Taran ließ sich erschrocken zurückfallen. Im Sattel des schaumbedeckten Tieres gewahrte er eine furchterregende Gestalt. Von den Schultern des fremden Reiters flammte ein blutroter Mantel herab. Blutrot waren auch seine gewaltigen Arme.
Voll Entsetzen erkannte der Junge, daß er ein Hirschgeweih auf dem Kopf trug.
Der Gehörnte König! Taran preßte sich gegen den Stamm einer Eiche, um den blitzenden Hufen zu entrinnen. Roß und Reiter stürmten an ihm vorbei. Der Blutrote trug einen Totenschädel als Maske vor dem Gesicht; ihr entsprossen die mächtigen Äste eines Geweihs. Hinter der bleichen Knochenmaske glühten zwei feurige Augen.
Dem Gehörnten König folgte eine Schar berittener Kriegsleute. Er stieß einen langgezogenen Schrei aus, den Schrei eines wilden Tieres. Die Reiter nahmen ihn johlend auf. Einer von ihnen, ein häßlich grinsender Krieger, erblickte Taran. Er wandte sein Roß und zückte das Schwert. Taran sprang von der Eiche weg, er tauchte im Dickicht unter. Wie eine Natter zischend, ereilte ihn die Klinge. Er fühlte einen beißenden Schmerz quer über den Rücken.
Blindlings rannte der Junge davon. Schößlinge peitschten ihm das Gesicht. Er stolperte über verborgene Felsbrocken, riß sich an ihren Zacken die Knie wund. Später lichtete sich der Wald. Keuchend hastete Taran ein ausgetrocknetes Flußbett entlang. Dann übermannte ihn die Erschöpfung, er taumelte, streckte hilflos die Hände aus. Alles begann sich im Kreis zu drehen. Als Taran die Augen öffnete, stand die Sonne schon tief im Westen. Er lag auf dem Rasen, jemand hatte einen Mantel über ihn gebreitet, die linke Schulter schmerzte ihn stark. Ein fremder Mann kniete neben ihm, in der Nähe graste ein weißes Roß. Taran richtete sich benommen auf. Hatten die Reiter ihn überwältigt? Der Mann hielt ihm eine Flasche hin.
„Trink!“ sagte er. „Deine Kraft wird sofort zurückkehren.“ Der Fremde hatte das zottige graue Haar eines Wolfes. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und schimmerten grünlich. Sonne und Wind hatten sein Antlitz gegerbt, es dunkel gebräunt und mit schmalen Falten durchfurcht. Sein Mantel war grob und abgenutzt von der Reise. Um die Hüften trug er einen weißen Ledergürtel mit kunstvoll geschmiedeter Schnalle.
„Trink!“ sagte der Fremde abermals, während Taran ihn zweifelnd anblickte. „Du schaust drein, als wollte ich dich vergiften.“ Er lächelte. „Das ist nicht die Art, wie Gwydion aus dem Hause Don mit Verwundeten umgeht …“
„Gwydion?“ Taran nahm einen Schluck aus der Flasche und rappelte sich hoch. „Du bist nicht Gwydion!“ rief er. „Man hat mir von ihm erzählt. Fürst Gwydion ist ein großer Feldherr, ein Held! Du aber bist…“ Jetzt erst fiel ihm das lange Schwert am Gürtel des Fremden auf. Eschenblätter von blassem Gold umrankten den Griff, goldener Zierat von Laubwerk und Zweigen bedeckte die Scheide. Wahrhaftig – die Waffe eines Fürsten! Taran fiel auf die Knie und senkte den Kopf. „Ich wollte Euch nicht verletzen, Fürst Gwydion!“ stammelte er verwirrt. Gwydion half ihm beim Aufstehen. Taran starrte noch immer ungläubig auf die einfache Kleidung und das abgezehrte Gesicht mit den tiefen Falten. War dies der stolze, glorreiche Held, von dem ihm Dallben erzählt hatte?
Gwydion verstand seinen enttäuschten Blick. „Nicht der Schmuck macht den Helden“, sagte er freundlich, „noch macht das Schwert den Krieger aus. Komm und verrate mir nun, wie du heißt und was dir geschehen ist. Aber versuch mir nicht einzureden, du habest dir deine Verletzung beim Vogelfang zugezogen oder auf einer Hasenjagd!“
„Ich sah den Gehörnten König!“ stieß Taran hervor. „Er reitet mit seinen Kriegsleuten durch den Wald. Einer von ihnen hat mich zu töten versucht. Ich hab’ den Gehörnten König mit eigenen Augen gesehen – und es war schrecklich. Dallben hat mir nicht zuviel erzählt!“
Gwydion blickte ihn durchdringend an. „Wer bist du, daß du von Dallben sprichst?“ fragte er streng.
„Ich bin Taran von Caer Dallben“, antwortete der Junge, und obwohl er bleich wie ein Semmelpilz war, versuchte er, ein keckes Gesicht zu machen.
„Von Caer Dallben?“ Gwydion stutzte einen Augenblick und musterte Taran befremdet. „Weiß Dallben davon, daß du dich in den Wäldern herumtreibst? Ist Coll in der Nähe?“
Tarans Kinnlade klappte herunter. Er sah aus wie vom Donner gerührt. Gwydion warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. „Warum so überrascht?“ meinte er. „Dallben und Coll sind gute Bekannte von mir. Sie sind viel zu vernünftig, als daß sie dich hier allein herumstreunen ließen. Du bist also fortgelaufen, nicht wahr? Ich warne dich, Dallben ist nicht der Mann, der sich das bieten läßt!“