„Dann binde ihr einfach die Pfoten zusammen und lade sie Melyngar auf den Rücken!“ schlug Doli vor.
Taran nickte. „Hen Wen wird nicht mögen, aber uns bleibt keine andere Wahl – Eben noch hatte das weiße Schwein sich die Schwarte an einem Baumstrunk gescheuert – jetzt war es mit einemmal nicht mehr zu sehen.
„Hen!“ rief Taran. Er wandte sich an den Barden und fragte: „Wo steckt sie bloß?“
Fflewddur schüttelte das Haupt. Weder er noch Eilonwy hatten sie weglaufen sehen. Gurgi hatte Melyngar mit Wasser versorgt und das Schwein überhaupt nicht beachtet.
„Sie kann doch nicht schon wieder ausgerissen sein!“ Taran rannte ein Stück in den Wald hinein. Als er wiederkam, war er kreidebleich im Gesicht.
„Sie ist fort“, keuchte er. „Sie muß sich irgendwo versteckt haben, ich kenne das.“
Er warf sich zu Boden und machte sich bittere Vorwürfe, weil er Hen Wen aus den Augen gelassen hatte. „Ich bin schuld daran, daß sie weg ist!“ rief er. „Zum zweitenmal bin ich schuld daran!“
„Laß die anderen weiterziehen“, schlug Eilonwy vor. „Wir beide werden Hen suchen und ihnen dann folgen.“ Ehe Taran dem Mädchen antworten konnte, vernahm er ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Von fern her war das Gebell einer Hundemeute zu hören, gefolgt von dem langgezogenen Ruf eines Jagdhorns.
Die Gefährten erstarrten vor Schreck. Wie versteinert standen sie da und rührten sich nicht. Das Horn verklang in der Ferne, ein Schatten geisterte über den bleigrauen Himmel.
„Gwym, der Jäger“, murmelte Fflewddur Fflam. „Wo er reitet, da ist auch der Tod nicht fern.“
18. Die Flamme Dyrnwyns
Kaum war das Jagdhorn verklungen, da hörten sie in der Nähe das Klappern von Pferdehufen. „Die Kundschafter des Gehörnten Königs!“ rief Fflewddur. „Jetzt haben sie uns entdeckt!“
Vier Reiter kamen über die Wiese herangesprengt, die Lanzen auf Taran und seine Gefährten gerichtet. „Ich könnte es wieder mit einem Netz versuchen“, meinte das Mädchen. „Aber ich fürchte, es wird nicht viel nützen, auch diesmal nicht.“
Taran zog das Schwert aus der Scheide. „Laß sie nur kommen!“ rief er. „Mit denen werden wir fertig!“
„Nein – erst die Pfeile!“ gebot der Barde. „Für die Schwerter findet sich später noch Arbeit genug.“ Sie rissen die Bogen von der Schulter. Auf Fflewddurs Geheiß stellten sie sich in einer Linie auf und knieten nieder. Die blonde Mähne des Barden flatterte im Wind, sein Gesicht glühte vor Aufregung. „Seit Jahren habe ich nicht mehr richtig gekämpft!“ rief er. „Dazu hat man als Barde selten Gelegenheit. Denen werde ich zeigen, was es heißt, einen Fflam zum Gegner zu haben!“ Taran legte den ersten Pfeil auf die Sehne. Fflewddur gab ihnen einen Wink, sie spannten die Bogen und zielten.
„Los!“ schrie der Barde.
Taran sah sein Geschoß weit neben dem ersten Reiter vorbeifliegen. Mit einem Ruf des Unmuts zog er den nächsten Pfeil aus dem Köcher. Neben ihm stieß Gurgi einen lauten Freudenschrei aus. Er hatte als einziger sein Ziel getroffen: Einer der Angreifer stürzte vom Pferd. „Sie merken, daß wir Stacheln haben!“ rief Fflewddur.
„Los, noch mal!“
Die Reiter drehten ab und nahmen die Schilde hoch. Zwei von ihnen griffen von vorn an, der dritte kam aus der Flanke.
„Aufgepaßt!“ schrie der Barde. „Rücken an Rücken!“ Gurgis Schuß war ein Zufallstreffer gewesen. Pfeil um Pfeil prallte an den Schilden der Angreifer ab. Melyngar, der unweit des Kampfplatzes festgebunden war, stampfte mit seinen Hufen den Boden. Taran erinnerte sich daran, wie tapfer das weiße Roß für Gwydion gekämpft hatte. Trotzdem wagte er nicht, sich von den Gefährten zu entfernen, um es loszuknüpfen. Die Reiter umkreisten sie. Einer wandte ihnen für einen Augenblick die freie Seite zu. Dolis Pfeil schnellte von der Sehne und warf den Mann aus dem Sattel. Die zwei anderen Reiter rissen die Pferde herum und ergriffen die Flucht.
„Wir haben sie abgeschlagen!“ jubelte Eilonwy. „Die Bienen haben die Geier verjagt!“
Fflewddur schüttelte keuchend den Kopf. „Sie holen Verstärkung und kommen wieder. Dann werden sie in der Übermacht sein. Das ist zwar höchst schmeichelhaft für uns; trotzdem glaube ich, daß wir nicht auf sie warten sollten. Ein Fflam versteht zu kämpfen – er weiß aber auch, wann es besser ist, sich zurückzuziehen. In diesem Fall ist es klüger, wenn wir uns aus dem Staub machen.“
„Aber wir können Hen Wen nicht im Stich lassen!“ rief Taran.
„Geh, such sie doch!“ knurrte Doli. „Du wirst deinen Kopf verlieren, wie du das Schwein verloren hast.“
„Der listige Gurgi wird gehen“, schlug Gurgi vor. „Ohne zu bangen, wird er das Schweinchen fangen und wiedererlangen.“
„Wir können es uns nicht leisten, unsere Kraft zu verzetteln“, sagte der Barde und hielt ihn zurück. „Ein Schwert weniger könnte uns zum Verhängnis werden. Laßt Hen Wen für sich selber sorgen! Wo immer sie stecken mag: Ich bin sicher, dort ist sie weit weniger in Gefahr als wir.“
„Damit kannst du recht haben“, antwortete der Junge nachdenklich. „Fällt es mir auch nicht leicht, Hen Wen ihrem Schicksal zu überlassen, so weiß ich doch, daß wir auf schnellstem Wege nach Caer Dathyl müssen.“
„Fragt sich nur, ob das noch möglich ist“, sagte Fflewddur stirnrunzelnd. „Was hältst du davon, Doli?“
Der Zwerg blickte finster zu Boden und überlegte, dann meinte er: „Möglich wäre das schon. Doch wir müssen ins Tal hinunter und werden dabei auf die Vorhut des Feindes stoßen.“
„Ob wir durchkommen?“ fragte Taran.
„Vielleicht ja, vielleicht nein“, grunzte Doli. „Versuchen wir’s – und es wird sich zeigen.“
„Der Entschluß liegt bei dir“, sagte Fflewddur mit einem Blick auf den Jungen.
„Versuchen wir’s!“ meinte Taran. Sie wanderten ohne Aufenthalt weiter. Bei Anbruch der Nacht wollte Taran rasten lassen, der Zwerg jedoch war dagegen. Murrend folgten ihm die Gefährten durch die Finsternis. Sie waren dem Angriff, den Fflewddur erwartet hatte, entgangen. Einmal zog eine Reiterschar mit brennenden Fackeln in Bogenschußweite an ihnen vorüber. Sie duckten sich in die Büsche und warteten, bis die Lichter hinter den Hügeln verschwunden waren. Dann führte Doli den Trupp ins Tal hinunter, wo sie sich bis zum nächsten Morgen in einem Waldstück verbargen. Bei Tagesgrauen enthüllte sich ihnen ein Bild, das sie mit Verzweiflung erfüllte. Soweit das Auge reichte, wimmelte das Tal von Feinden. Schwarze Banner flatterten über den Heerhaufen des Gehörnten Königs, Speerspitzen blinkten und Schwerter klirrten. Taran ließ alle Hoffnungen fahren und wandte sich ab. „Zu spät“, murmelte er. „Wir haben es nicht geschafft!“ Während der Zwerg die Heerscharen beobachtete, band Fflewddur das weiße Roß los und drängte zum Aufbruch.
„Noch haben wir eine letzte Möglichkeit!“ rief er. „Caer Dathyl liegt genau vor uns. Wir müssen jetzt nur versuchen, uns durchzuschlagen!“
Taran nickte. „Mein Platz ist bei Gwydions Leuten. Doli mag Gurgi und Eilonwy in Sicherheit bringen.“ Er holte tief Atem und schnallte den Schwertgurt fester. Dann wandte er sich mit ruhiger Stimme an den Zwerg: „Gut hast du uns geführt. Kehre nun heim zu deinem König und bestelle ihm unseren Dank! Deine Arbeit ist getan.“
Der Zwerg sah ihn wütend an. „Getan!“ maulte er. „Narren und Strohköpfe, die ihr seid! Denkt bloß nicht, ich sehe mir an, wie man euch in Stücke hackt! Ich kann Pfuscherei nicht vertragen. Ob ihr es wollt oder nicht – ich gehe mit euch!“
Kaum hatte Doli zu Ende gesprochen, als ein Pfeil an seinem Kopf vorbeipfiff. Melyngar stieg hoch. Aus einem Gehölz im Rücken der Freunde stürmte zu Fuß ein Dutzend feindlicher Krieger hervor. „Fort!“ rief der Barde Taran zu. „Reite nach Caer Dathyl – sonst ist alles verloren!“
Der Junge zögerte einen Augenblick; doch Fflewddur packte ihn bei den Schultern, stieß ihn auf Melyngar zu, drängte Eilonwy hinterher. Dann zog er das Schwert und schrie Taran mit blitzenden Augen an: „Tu, was ich sage!“