„Und was ist aus Achren geworden?“ erkundigte sich das Mädchen.
„Ich weiß es nicht“, sagte Gwydion. „Ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Einige Tage verbrachte ich in den Wäldern, bis meine Wunden geheilt waren. Als ich zurückkehrte, um dich zu suchen, Taran, lag Spiral Castle in Trümmern. Da beklagte ich deinen Tod.“
„So wie wir Euch beklagt haben“, sagte der Junge.
„Dann brach ich von neuem nach Caer Dathyl auf“, berichtete Gwydion weiter. „Ich muß eine Zeitlang dem gleichen Pfad gefolgt sein wie ihr, bloß ohne den Umweg durch Medwyns Tal und das Reich der Unterirdischen. So kam es, daß ich euch auf dem letzten Stück überholt hatte, ohne daß wir es wußten.“ Gwydion hielt einen Augenblick inne und strich mit der Hand über Tarans Decke, bevor er in seiner Erzählung fortfuhr: „Heut früh stieß ein Gwythaint vom Himmel herab, auf mich zu. Er griff mich nicht an, sondern flatterte vor mir her und stieß seltsame Schreie aus. Die Sprache der Gwythaints ist kein Geheimnis für mich. Seit ich dem Turm der Schrecken entronnen bin, sind mir die Sprachen aller lebenden Wesen vertraut. So erfuhr ich von ihm, daß sich eine Gruppe von Wanderern in der Nähe befand, bei denen ein weißes Schwein war. Da machte ich unverzüglich kehrt und eilte in meiner eigenen Spur zurück. Um diese Zeit muß Hen Wen gespürt haben, daß ich in ihrer Nähe war. Als sie ausriß, rannte sie nicht aus Furcht weg, sondern um mich zu finden. Was sie mir sagen wollte, war wichtiger, als ich vermutet hatte. Nun erst verstand ich, warum der Gehörnte König ihr nachjagte: Offenbar wußte er, daß sie das einzige Mittel zu seiner Vernichtung kannte.“
„Was für ein Mittel?“ fragte der Junge.
„Hen Wen kannte den Geheimnamen des Gehörnten Königs.“
„Kann ein Name so mächtig sein?“ staunte Taran.
Gwydion nickte. „Wenn du das Böse beim richtigen Namen nennst, ist es dir ausgeliefert. Dann bist du imstande, es ein für allemal zu vernichten. Ohne Hen Wen freilich hätte ich den Geheimnamen nie erfahren.“ Er beugte sich zu Hen Wen hinab, um ihr die Ohren zu kraulen. „Hen hat mir das Geheimnis im Wald verraten, ganz ohne Runenstäbe und Zauberspruch. Vom ersten Augenblick an verstanden wir uns wie alte Freunde. Über uns kreiste der Gwythaint. Er war es, der mir den Weg zum Gehörnten König wies.“
„Und wo ist der Gwythaint jetzt?“ fragte Taran.
Gwydion zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht nach Annuvin zurückkehren wird. Sollte Arawn erfahren, was er für uns getan hat, so ließe er ihn in Stücke reißen. Jedenfalls hat der Gwythaint sich deiner Hilfe würdig erwiesen.“
Taran lächelte glücklich und nickte. „Ruh dich nun aus“, sagte Gwydion. „Alles ist gut geworden und hat seine Richtigkeit.“
Er erhob sich und wollte gehen. Eilonwy hielt ihn zurück und fragte ihn nach dem Geheimnamen des Gehörnten Königs.
Gwydion blickte sie freundlich an. „Den darf ich dir nicht verraten“, sagte er. „Doch dein Name, das schwöre ich dir, gefällt mir bei weitem besser.“
Nach ein paar Tagen war Taran so weit zu Kräften gekommen, daß er ohne fremde Hilfe umhergehen konnte. Gwydion lud ihn zu einem Rundgang durch Caer Dathyl ein. Die Festung lag auf einer Anhöhe und war um ein Vielfaches größer als Caer Dallben. Staunend besichtigte Taran die Rüstkammern und die Stallungen der Streitrosse, die Vorratshäuser und Werkstätten.
Später rief Gwydion alle Gefährten zu sich in die große Halle von Caer Dathyl, wo die Krieger des Fürsten mit ihren Bannern und Wappenschilden versammelt waren. Und hier, im Angesicht des ganzen Heeres, sprach ihnen Hochkönig Math, Sohn des Mathonwy aus dem Hause Don, seinen Dank für die Hilfe aus, die sie ihm und der Sache Prydains erwiesen hatten. Der weißbärtige Herrscher wirkte genauso alt und mürrisch wie Dallben. Er schien eine Vorliebe für lange Reden zu haben, und an Ausdauer im Sprechen stellte er selbst Eilonwy in den Schatten. Nach einer der wortreichsten Ansprachen, die Taran jemals vernommen hatte, ehrte er die Gefährten durch eine tiefe Verneigung und ließ sich von seinen Leibwächtern auf einem Tragstuhl, der mit golddurchwirktem Linnen ausgeschlagen war, aus der Halle bringen.
Gwydion blieb bei Taran und dessen Freunden zurück. „Auch ich“, begann er, „möchte euch meine Anerkennung für alles bezeugen, was ihr geleistet habt. Erlaubt mir daher, daß ich jedem von euch ein Geschenk überreiche – als Zeichen des Dankes und der Erinnerung.“ Dem Barden verehrte er eine Harfensaite. „Wenn alle anderen reißen“, sagte er, „…diese wird halten, mit was für stattlichen Übertreibungen du auch aufwartest, und ihr Klang wird der reinste und schönste von allen sein.“
Dem wackeren Doli verlieh er die Gabe, sich unsichtbar zu machen, solang er wollte; und Gurgi erhielt einen ledernen Vorratsbeutel. „Soviel du ihm auch entnimmst“, erklärte er ihm, „dieser Beutel wird niemals leer. Bewahre ihn gut, er gehört zu den wertvollsten Schätzen Prydains.“
Eilonwy schenkte er einen Armreif von Gold, den einer der ältesten und berühmtesten Künstler des Zwergenvolkes geschmiedet hatte. „So kostbar er ist“, versicherte er dem Mädchen, „mir ist deine Freundschaft noch kostbarer.“
Zuletzt trat der Fürst auf den Jungen zu, blickte ihm in die Augen und sagte: „Du aber, Taran von Caer Dallben, wähle dir selbst eine Gabe aus!“
„Ich – möchte nicht, daß ein Freund mich für etwas belohnt, was ich freiwillig und aus Freundschaft getan habe“, sagte Taran.
Lächelnd erwiderte Gwydion: „Du bist, wie mir scheint, noch immer der alte Starrkopf, Taran. Dennoch weiß ich: Du sehnst dich im Innersten deines Herzens danach, ein gewaltiger Held zu werden. Ob dieser Traum sich erfüllen wird oder nicht, liegt allein an dir. Dies zu bewirken, steht nicht in meiner Macht. Solltest du aber sonst einen Wunsch haben, den zu gewähren mir nicht versagt ist, so will ich das meine tun.“
Taran neigte den Kopf. „Es hat Zeiten gegeben, da zog es mich in die Ferne“, gestand er. „Doch neuerdings zieht es mich in Gedanken stärker und immer stärker heimzu, nach Caer Dallben. Darum erlaubt mir, daß ich nach Hause zurückkehre.“
Gwydion nickte. „Es sei!“
20. Die Heimkehr
Die Reise nach Caer Dallben verlief rasch und ohne jeden Zwischenfall, denn die Herren der südlichen Lande hatten sich nach dem Tod des Gehörnten Königs davongemacht wie Ratten in ihre Löcher. Gwydion selbst führte Taran und seine Gefährten am Ufer des Ystrad nach Süden. Auch Eilonwy hatte darauf bestanden, mit ihnen zu reiten, um Dallben und Coll, von denen so oft die Rede gewesen war, endlich von Angesicht kennenzulernen. Gwydion hatte jedem von ihnen ein Pferd geschenkt. Das beste und schnellste von allen hatte Taran bekommen: den grauen, silbermähnigen Hengst Melynlas aus Melyngars Stamm. Hen Wen thronte wohlgelaunt in einer von zwei Pferden getragenen Sänfte und machte einen außerordentlich zufriedenen Eindruck. Die Begrüßung in Caer Dallben übertraf Tarans kühnste Erwartungen. Er konnte sich nicht genug darüber wundern, daß solch ein berühmter Held wie Coll sich dazu herabließ, einen Hilfsschweinehirten ans Herz zu drücken. Dann umarmte der alte Recke auch Eilonwy, Hen Wen und alle anderen, wie er ihrer gerade habhaft wurde. Dabei strahlte er übers ganze Gesicht wie ein Winterfeuer, und sein Kahlkopf glänzte vor Freude. Anschließend feierten sie ein Fest, wie man es sich nicht fröhlicher denken kann. Dallben unterbrach der Feier zuliebe seine wissenschaftlichen Betrachtungen; freilich zog er sich schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in seine Stube zurück und blieb für den Rest des Tages verschwunden. Später gesellte sich Gwydion zu ihm, und sie verbrachten mehrere Stunden allein miteinander, denn es gab wichtige Dinge, die Gwydion mit dem alten Zauberer nur unter vier Augen besprechen konnte. Gurgi, der sich völlig wie zu Hause fühlte, verkroch sich nach dem Festmahl unter einem Heuhaufen in der Scheune zu friedlichem Schlaf. Während Fflewddur und Doli sich ein wenig in Caer Dallben umsahen, ging Taran mit Eilonwy hinter das Haus zum Schweinegarten, wo Hen Wen sie mit freundlichem Grunzen empfing, als ob gar nichts geschehen wäre.