Lloyd Alexander
Taran und der Zauberkessel
Die Ratsversammlung
Allzufrüh war es Herbst geworden. Schon hatten im Norden des Landes Prydain die meisten Bäume das Laub verloren. Im kahlen Geäst hingen, schwarz und zerzaust, die verlassenen Vogelnester. Weiter im Süden, wo Caer Dallben lag, boten die Berge jenseits des Flusses Avren einen gewissen Schutz vor den rauhen Winden; doch auch hier schimmerten die Wälder schon im herbstlichen Licht.
Für Taran ging der Sommer zu Ende, bevor er noch richtig begonnen hatte. Eines Morgens war er von Dallben damit beauftragt worden, Hen Wen zu baden, das weiße Zauberschwein. Warum hatte der alte Meister ihm nicht befohlen, einen ausgewachsenen Gwythaint zu fangen, eine jener bösen geflügelten Kreaturen? Das wäre ein Auftrag nach Tarans Herzen gewesen! Mürrisch füllte der Junge den Wassereimer am Brunnen und schleppte ihn zum Schweinegarten. Für gewöhnlich hatte Hen Wen nichts dagegen, wenn sie gebadet wurde. Heute indessen brach sie in lautes Gekreisch aus und wälzte sich auf dem Rücken im Schlamm herum. Während Taran sich mit ihr abmühte, nahte vom Wald her ein fremder Reiter. Am Gatter des Schweinegartens zügelte er das Pferd.
„He – du dort, Schweinejunge!“ Der Reiter war nicht viel älter als Taran. In seinem blassen, hochmütigen Gesicht, das von schlohgelbem Haar umrahmt war, glühte ein Paar kohlschwarzer Augen. Er trug vornehme Kleider, doch waren sie abgenutzt, und sein sorgsam zusammengeflickter Mantel vermochte nur schlecht das fadenscheinige Untergewand zu verbergen. Der Fremde ritt eine Rotschimmelstute, einen hageren, rot und gelb gefleckten Klepper, der genauso boshaft dreinblickte wie er selbst.
„He, Schweinejunge! Bin ich hier richtig auf Caer Dallben?“
Ton und Gehabe des Reiters verletzten Taran; aber der Junge biß die Zähne zusammen, zwang sich zu einer höflichen Verbeugung und sagte: „Dies hier ist Caer Dallben – doch ich bin kein Schweinejunge. Ich heiße Taran und diene Dallben als Hilfsschweinehirt.“
„Schwein ist Schwein“, rief der Fremde, „und Schweinejunge bleibt Schweinejunge! Lauf und melde mich deinem Herrn! Sag ihm, Prinz Ellidyr sei gekommen, der Sohn des Pen-Llarcau.“
Hen Wen ergriff die günstige Gelegenheit, um sich in einen anderen Pfuhl zu wälzen. „Willst du wohl zur Vernunft kommen!“ schimpfte Taran und packte sie an den Ohren.
„Laß ab von der Sau!“ befahl ihm Prinz Ellidyr. „Tu, was ich sage, und melde mich deinem Herrn!“ „Tu es gefälligst selber!“ rief Taran ihm über die Schulter zu, während er versuchte, Hen Wen aus dem Schlamm zu zerren. „Erst muß ich mit meiner Arbeit fertig sein.“ „Sieh dich vor!“ entgegnete Ellidyr. „Oder gelüstet es dich nach einer Tracht Prügel?“
Taran wurde rot im Gesicht. Zornig überließ er Hen Wen sich selbst und kletterte über den Zaun. Die Fäuste geballt und den Kopf in den Nacken geworfen, rief er: „Nimm das zurück, du! Oder es soll dir leid tun!“ Ellidyr lachte verächtlich auf. Ehe Taran ihm auszuweichen vermochte, tat der Rotschimmel einen Satz nach vorn. Ellidyr schien gewaltige Kräfte zu haben. Er beugte sich aus dem Sattel und packte den Jungen am Kragen. Vergebens schlug Taran mit Armen und Beinen um sich; es gelang ihm nicht, sich aus Ellidyrs Griff zu befreien.
Er mußte sich beuteln und schütteln lassen, daß ihm die Zähne klapperten. Ellidyr spornte das Roß zum Galopp an. Nun schleifte er Taran über den Rasen zur Hütte, und während die Hühner in alle Richtungen auseinanderstoben, stieß er ihn roh zu Boden. Der Lärm hatte Dallben und Coll vor die Tür gelockt. Auch Prinzessin Eilonwy kam aus der Waschküche herbeigestürzt, mit fliegender Schürze, das Wäscheholz in der Hand.
Ellidyr reckte sich im Sattel auf und rief dem uralten Zauberer zu: „Seid Ihr Dallben? Ich bringe Euch Euren Schweinejungen, der Bursche ist unverschämt, er gehört verprügelt!“
„Ach nein?“ sagte Dallben mit ruhiger Stimme. „Ob Taran unverschämt war, das ist eine Sache – und ob er dafür verprügelt gehört, eine andere. Am besten hältst du dich da heraus, junger Mann.“ „Ich bin Ellidyr, Sohn des Pen-Llarcau!“ „Ja doch, ja doch, das ist mir nicht unbekannt“, unterbrach ihn Dallben und winkte ab. „Geh zum Brunnen und tränke dein Pferd! Es wird gut sein, wenn du bei dieser Gelegenheit auch dein hitziges Gemüt ein wenig abkühlst. Sobald du gebraucht wirst, wird man dich rufen.“
Ellidyr setzte zu einer Entgegnung an; doch unter den strengen Blicken des Meisters zog er es vor zu schweigen. Er wendete die Rotschimmelstute und trieb sie zum Brunnen.
Prinzessin Eilonwy und der alte glatzköpfige Coll halfen Taran auf die Füße.
„Hast du nichts Besseres zu tun, mein Junge, als dich mit fremden Leuten herumzuschlagen?“ brummte Coll gutmütig; und Eilonwy fügte hinzu: „Wie kannst du dich mit ihm einlassen, wenn er zu Pferd ist – und du zu Fuß!“ „Das nächstemal soll er mich kennenlernen!“ knurrte Taran.
Dallben widersprach ihm und sagte: „Das nächstemal halte dich Ellidyr gegenüber gefälligst zurück! Das mag nicht sehr großartig sein – und dennoch solltest du es versuchen. Geh jetzt! Prinzessin Eilonwy wird dir behilflich sein, wieder ein menschenwürdiges Aussehen zu erlangen.“
Niedergeschlagen folgte Taran dem goldblonden Mädchen in die Waschküche. Mehr noch als die Prügel, die Ellidyr ihm verabreicht hatte, schmerzten ihn dessen höhnische Worte. Und daß Eilonwy ihn besiegt zu Füßen des Prinzen von Pen-Llarcau gesehen hatte, wurmte ihn ganz besonders.
„Wie konnte das nur geschehen?“ fragte Eilonwy, während sie Taran mit einem feuchten Lappen das Gesicht abwischte. Der Junge gab keine Antwort, mürrisch überließ er sich ihrer Fürsorge.
Noch ehe das Mädchen mit der Arbeit fertig war, erschien eine über und über behaarte, mit Blättern und Zweigen gespickte Gestalt am Fenster, schwang sich herein und begann zu zetern.
„O Jammer und Schande! Der gute, kluge, treue und tapfere Gurgi hat alles gesehen! Knüffe und Püffe für den armen, guten, jungen Herren – Schrammen und Beulen, es ist zum Heulen! Der wackere Gurgi ist voll des Mitleids für seinen geliebten Gönner, und außerdem hat er Neuigkeiten für ihn, gute und wichtige Neuigkeiten! Ein mächtiger Fürst kommt von Norden geritten: Hopphopp im Galopp, auf weißem Pferd mit schwarzem Schwert. O Jubel und Freude, nach allem Leide!“ „Was sagst du da?“ rief der Junge. „Meinst du etwa den Fürsten Gwydion? Das kann nicht wahr sein!“ „Und doch ist es wahr“, sagte eine wohlbekannte Stimme hinter ihnen. Fürst Gwydion stand im Türrahmen. Mit einem Ausruf der Überraschung stürzte Taran auf ihn zu und ergriff seine Hand. Eilonwy schlang die Arme um Gwydions Hals, während Gurgi erfreut im Kreise um sie herumtanzte. Als Taran den Fürsten zuletzt gesehen hatte, war Gwydion reich und prächtig gewandet gewesen, wie es ihm als dem obersten Feldherrn des Hauses Don zukam. Heute indessen trug er bloß einen einfachen Kapuzenmantel und einen groben, schmucklosen Rock. Bewaffnet war er mit Dyrnwyn, dem Zauberschwert in der schwarzen Scheide, das Eilonwy ihm geschenkt hatte.
„Seid mir alle gegrüßt!“ rief er. „Gurgi sieht noch genauso hungrig aus wie immer, und Eilonwy ist noch schöner geworden, seit wir uns das letztemal gesehen haben.“ Dann wandte er sich dem Jungen zu, und während ein Lächeln über sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht huschte, meinte er: „Du aber, Taran, scheinst mir ein bißchen mitgenommen zu sein. Dallben hat mir erzählt, was geschehen ist.“ „Ich habe den Streit nicht gesucht“, erklärte der Junge trotzig.
„Aber er hat dich gefunden, Taran von Caer Dallben!“ Gwydion trat einen Schritt zurück, musterte Taran aufmerksam aus seinen grünen Augen und wiegte das zottige, wolfsgraue Haupt. „Wie groß du geworden bist, Junge! Hoffentlich hast du an Weisheit ebensoviel dazugewonnen wie an Länge! Nun, man wird sehen. Jetzt muß ich mich für die Ratsversammlung bereit machen.“ „Wofür?“ rief Taran. „Dallben hat nichts von einer Ratsversammlung gesagt. Er hat uns nicht einmal verraten, daß Ihr hierherkommt.“