„Es gibt viel, was man wissen muß“, sagte Adaon. „Außerdem gibt es viel, was man lieben sollte: den Wechsel der Jahreszeiten, den Glanz eines Kieselsteins, der am Ufer des Flusses aufblinkt, und all das andere, was das Herz eines Menschen reich macht.“ Auf Adaons Antlitz lagen die Strahlen der Morgensonne; aber in seinen Worten schwang eine dunkle Schwermut mit. Als er merkte, daß Taran aufhorchte, unterbrach er sich.
„Mir wird leichter ums Herz sein, wenn unser Auftrag erfüllt ist“, sagte er. „Du mußt wissen, daß in den nördlichen Landen Arian Llyn auf mich wartet, mit der ich verlobt bin. Ich werde zu ihr zurückkehren, wenn wir den Zauberkessel zerstört haben.“
Die Nacht verbrachten die Reiter jenseits des Flusses Avren, nahe der Grenze zu König Smoits Reich. Gwydion war zufrieden, sie hatten sich brav gehalten während des ersten Tages. Daß freilich der schwierigste und gefährlichste Teil ihres Unternehmens noch vor ihnen lag, war jedermann klar.
Nachdem sie die Pferde versorgt und zu Abend gegessen hatten, schlug Fflewddur vor, Adaon möge ihnen etwas auf seiner, des Barden, Harfe vorspielen. Adaon, der mit dem Rücken an einem Baum lehnte, ließ sich die Harfe reichen. Für eine Weile hielt er den Kopf gesenkt, als müßte er sich besinnen; dann griff er behutsam in die Saiten.
Während er spielte, hielt er den Blick auf die Sterne gerichtet. Der Wald wurde still, die Geräusche verstummten. Adaon sang nicht von Krieg und Heldentaten, er stimmte ein Lied zum Ruhme des Friedens an, einen Lobgesang auf das Leben. Gern hätte Taran ihm länger zugehört; doch plötzlich, ganz unvermittelt, brach Adaon ab und reichte die Harfe mit ernstem Lächeln an Fflewddur zurück. Die Krieger wickelten sich zur Nachtruhe in die Mäntel ein. Ellidyr hielt sich mit Islimach abseits von allen anderen. Taran hatte sich den Sattel unter den Kopf geschoben; das neue Schwert griffbereit neben sich, dachte er an den nächsten Morgen und hoffte auf eine kurze Nacht. Später dann, als er schon halb eingeschlafen war, fiel ihm Adaons Traum ein. Da war es dem Jungen, als ob ihn ein Schatten streifte, der Schatten von dunklen Fittichen.
Am nächsten Tag überquerte die kleine Streitmacht den Ystrad und wandte sich dann nach Norden. Nun war die Stunde gekommen, da König Smoit sich von ihnen trennen mußte. Laut schimpfend ritt er nach Caer Cadarn, um dort seine Krieger zusammenzuziehen, wie es Fürst Gwydion ihm geboten hatte.
Kurz nach Mittag erreichten die Reiter den Wald von Idris. Bis an die Fesseln versanken die Pferde im welken Laub. Vom Regen geschwärzt, nahmen die Stämme der Eichen und Erlen sich wie verkohlte Knochen aus. Jenseits des Waldes türmte sich ein Gebirge auf, das ihnen mit seinen schroffen Felsen den Weg versperrte. Gwydion deutete mit der Rechten auf eine Geröllhalde. „Dort hinauf!“ Taran spürte ein Würgen in der Kehle, als Melynlas den Steilhang emporzuklimmen begann. Jetzt war es gewiß nicht mehr weit bis zum Dunklen Tor von Annuvin, das fühlte er.
Einzeln hintereinander folgten sie einem schmalen Pfad, der sie in schwindelnder Höhe am Abgrund entlangführte. Adaon, Taran und Ellidyr ritten am Ende des Zuges. Doch plötzlich gab Ellidyr seinem Roß die Fersen und wollte an Taran vorbei. „He, Schweinejunge! Dein Platz ist hinten!“
„Und deiner ist dort, wo du ihn verdienst!“ Für wenige Augenblicke befanden die beiden Reiter sich Knie an Knie. Dann bäumte sich Islimach auf und wieherte schrill. Mit der Linken fiel Ellidyr Melynlas in die Zügel, um ihn zurückzuzwingen. Taran versuchte den Hengst herumzureißen, doch Melynlas hatte den Halt verloren, er rutschte nach hinten weg, auf den Abgrund zu. Taran sprang ab und klammerte sich an einem Felsen fest, um nicht von dem Hengst in die Tiefe gerissen zu werden.
Melynlas hatte Glück. Es gelang ihm, auf einem tiefergelegenen Felsenvorsprung Fuß zu fassen. Taran preßte sich gegen die Steilwand. Er wagte es nicht, auf den Pfad zurückzuklettern. Adaon stieg vom Pferd, er lief an den Rand des Abgrunds und versuchte, dem Jungen die Hand zu reichen. Auch Ellidyr glitt aus dem Sattel. Er schob Adaon zur Seite, kletterte ein Stück hinab, faßte Taran unter den Armen. Mit kraftvollem Schwung wuchtete er den Jungen wie einen Mehlsack wieder auf den Pfad hinauf. Dann stieg er hinab zu Melynlas und stemmte sich mit der Schulter von unten her gegen seinen Leib. Nun hob er ihn Zoll um Zoll, bis der Hengst in der Lage war, selbst auf den Pfad zurückzuklettern. „Du Narr!“ keuchte Taran. „Hat dir dein Stolz den Verstand geraubt?“ Zum Glück hatte Melynlas keinen Schaden genommen, und Taran ertappte sich dabei, daß er Ellidyr eine gewisse Bewunderung nicht versagen konnte. „Stark ist er, das muß man ihm lassen“, räumte er in Gedanken ein.
Zum erstenmal, seit er ihn kannte, machte Ellidyr einen verwirrten Eindruck. „Du solltest nicht abstürzen!“ rief er. „Das habe ich nicht gewollt.“ Dann warf er den Kopf zurück, und mit spöttischer Miene fügte er hinzu: „Vor allem hätte mir’s leid getan um das arme Pferd.“ „Ich bin zwar beeindruckt von deiner Körperkraft“, sagte Adaon scharf. „Und doch ist es eine Schande, was du getan hast! Das schwarze Ungeheuer hockt dir im Nacken, ich warne dich!“
Einer von Morgants Kriegern hatten den Vorfall nach vorn gemeldet. Fürst Gwydion kam zurückgesprengt, begleitet von König Morgant, dem Zwerg und dem Barden.
„Dein Schweinejunge hat mir den Vortritt streitig gemacht“, sagte Ellidyr. „Glücklicherweise gelang es mir, seinen Gaul und ihn vor dem Absturz zu retten.“ „War es wirklich so?“ Gwydion musterte Taran und seine zerrissenen Kleider. Der Junge war nahe daran, ihm der Wahrheit gemäß zu antworten; doch dann biß er sich auf die Lippen und schwieg. Ellidyr blickte verwundert zu ihm herüber.
„Wir können es uns nicht leisten, mit Menschenleben zu spielen“, erklärte der Fürst. „Leider brauche ich jeden Mann hier, sonst würde ich dich auf der Stelle heimschicken, Sohn des Pen-Llarcau. Beim nächstenmal kenne ich keine Gnade! Das gilt auch für jeden anderen.“
König Morgant trat vor. „Was ich befürchtet habe, bestätigt sich also, Gwydion: Der Weg durch die Berge ist schwierig und voll Gefahren, auch ohne den Schwarzen Kessel. Ich fürchte, es wird dir nicht glücken, ihn hier herauszubringen. Ob es nicht sicherer wäre, den Kessel nach Norden zu schaffen, auf mein Gebiet? Übrigens tätest du gut daran, die Packpferde einigen meiner Krieger anzuvertrauen; wir könnten sie austauschen gegen diese drei.“ Er zeigte auf Ellidyr, Taran und Adaon. „Wie ich sie einschätze, zögen sie lieber mit mir in den Kampf, statt im Hintertreffen zu bleiben, wie du es ihnen befohlen hast.“
„Ja doch!“ schrie Taran und schlug an sein Schwert. „Laßt uns mit König Morgant ziehen!“
„Nein“, sagte Gwydion fest. „Es bleibt alles, wie es beschlossen ist. Und nun vorwärts, wir haben schon Zeit genug verloren!“
„Es war ja auch nur ein Vorschlag“, versicherte König Morgant mit einem Achselzucken, ohne daß jemand das Flackern in seinen Augen bemerkt hätte.
Fflewddur hielt Taran am Ärmel zurück. „Was ist nun in Wirklichkeit los gewesen?“ fragte er leise. „Hat sich Ellidyr wieder einmal vergessen? Er paßt nicht zu uns, das sieht ja ein Blinder. Wie Gwydion ihn bloß mitnehmen konnte!“
„Ich bin um kein Haar besser“, erwiderte Taran zerknirscht. „Immer verliere ich im entscheidenden Augenblick die Beherrschung. Ich weiß nicht, weshalb ich mit Ellidyr nicht zurechtkomme.“
„Tröste dich!“ meinte der Barde und streichelte seine Harfe. „Wenn einer für derlei Schwierigkeiten Verständnis hat – dann wohl ich.“
Gegen Abend gewahrten sie ein paar Gwythaints am Himmel, Arawns gefiederte Schreckensboten, doch blieben sie glücklicherweise unbehelligt. Mit Einbruch der Dunkelheit erreichten sie eine flache, mit Heide und Kieferngestrüpp bewachsene Mulde. Über den Wipfeln glühten im Schein der untergehenden Sonne die Klippen des Dunklen Tores auf. Gwydion gab das Zeichen zum Absitzen.