Jetzt sieht Mami viel jünger aus, sagt Nomi zu mir, ja, stimmt, und über die Kaffeemaschine hinweg sehe ich in Mutters Gesicht, ihre leicht geröteten Wangen, wie sie sich abwechselnd zu Frau Köchli und Frau Freuler hindrehen (und was macht es denn aus, dass Mutters Augen jetzt fliegen?), und Nomi stellt unsere Sträusse auf die Kuchenvitrine, ein wunderschönes, gelbes Meer, sagt sie, und wir spannen wieder Kaffee ein, erhitzen Milch, lassen heisses Wasser in Teegläser laufen, kontrollieren die Bons, die uns Anita und Christel hinstellen.
Man sagt, jemand gibt einem ein gutes Gefühl, wahrscheinlich gibt es nichts Schöneres, als wenn einem jemand (grundlos) ein gutes Gefühl gibt, Frau Köchli und Frau Freuler, die uns damals, als ihre Ehemänner noch lebten, deren Hemden zum Bügeln brachten, und ich erinnere einzelne, wenige Sätze, wenn man so bügeln kann wie Frau Rózsa, und auch der Herr Miklós, mit seinen breiten Fingern! die beiden Schwestern, die immer zusammen gekommen sind, es nie eilig hatten, Frau Freuler, die den Korb trug mit den Hemden, weil sie kräftiger ist als jeder Kerl, sagte Frau Köchli über ihre Schwester, die im Winter die riesige, klobige Eismaschine bestieg, um die Kunsteisbahn zu putzen, und im Sommer, da sass sie auf einem erhöhten Posten, unter einem Sonnenschirm, Frau Freuler arbeitete als Bademeisterin im grössten Strandbad der Gemeinde, und niemand machte sich über sie lustig, über ihre unsportliche, unvorteilhafte Figur, ich bin eine überreife Birne, sagte sie lachend über sich selber, sondern alle hatten Respekt vor ihr, weil man wusste, wie schnell die Birne sein konnte, wenn es darum ging, jemanden aus dem Wasser zu ziehen; Frau Köchli, die im Dorf deswegen bekannt war, weil sie als Bibliothekarin arbeitete und Haare auf den Zähnen hat; vor allem aber wird über Frau Köchli erzählt, sie habe während des Zweiten Weltkrieges in Basel gelebt und Flüchtlinge bei sich versteckt — und kaum standen die beiden Schwestern in unserer Wäscherei, Frau Köchli mit ihrer auffälligen Kopfbedeckung, Frau Freuler mit ihrem kurz geschnittenen, schwarzgrauen Haar, da kam es mir so vor, als stünden die Fenster unserer Wäscherei weit offen, die beiden alten Frauen, die von draussen immer etwas mitbrachten, den Duft nach Äpfeln, frisch gemähtem Gras, einen Streit, den sie gerade gehabt hatten, mit einem ihrer Ehemänner oder sonst wem, die Vorfreude darüber, dass es bald wieder Frühling ist, und es hat mich beeindruckt, als Frau Köchli sagte, sie fühle den Frühling jedes Jahr genau gleich, im Frühling bin ich so alt wie du, sagte sie zu mir, und ihre Schwester lachte, warum lachst du? weil es stimmt, antwortete Frau Freuler; und wenn sich die Schwestern auf die Stühle neben dem Bügeltisch setzten, war es nicht deswegen aussergewöhnlich, weil sie so lange da sitzen blieben, bis der nächste Kunde kam, sondern weil Mutter und Vater mit den beiden Schwestern auf eine Art scherzten, wie sie es hier nur ganz selten taten, die Schwestern, die mir jetzt, am Eröffnungstag, das Gefühl geben, es gäbe nichts Logischeres, als aufgeregt zu sein, an so einem Tag, das sagen sie mir mit ihrer Herzlichkeit, meine Aufregung, die in ihren sprudelnden Gratulationen eine erlösende Entsprechung findet.
* EröFFnungsmenü *
Kalbs haxe mit Kartoeeelstock und rübli
Dessert Surpris
schreibe ich auf die Tafel, stelle sie um halb zwölf vor die Tür, und Vater rüstet mit Dragana den ganzen Morgen Salate, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Vater, der Dragana zeigt, wie sie die Orangen und Grapefruits zuschneiden soll für das Dessert, wir erwarten keine Armee, sagt Mutter, als sie den grössten Topf sieht, der randvoll mit Kalbshaxen gefüllt ist, die Hälfte würde vollkommen ausreichen, wir werden sehen, sagt Vater und verzieht sich beleidigt hinter seinen Topf, Vater, der erst wieder versöhnt ist, als wir ihm sagen, dass seine Haxe hervorragend schmeckt (aber Mutter hat natürlich Recht, wir werden die nächsten Abende zu Hause Haxe essen, weil Vater unter kochen die Töpfe füllen versteht, so Mutter, und es wird Monate dauern, bis Vater sich mässigt, bis Mutter ihm einigermassen das Kalkulieren beibringen kann, Vater, der ausserdem glaubt, dass alle Gäste sein Menü essen sollten, und wenn nicht, dann bringt es ihnen bei, dass es für sie am besten ist, Toast, Bouillon, Salat, hat man denn damit gegessen? eine Auseinandersetzung, die wir täglich führen werden, weil Vater tatsächlich glaubt, es liege an uns, wenn die Gäste nicht das Menü, sein frisch zubereitetes Menü bestellen).
Wo hast du so gut schreiben gelernt, fragt Anita, als wir uns am Mittag gegenübersitzen, ich, mit einem Stück Haxe im Mund, meinst du das im Ernst, frage ich. Ja, im Ernst, antwortet Anita, sie könne sich die Fremdwörter beim besten Willen nicht merken. Das könne sie gut verstehen, meint Nomi, sie könne sich gar nichts merken, sie müsse aufpassen, dass sie Haxe nicht mit ks schreibe, nein wirklich, sagt Nomi, Anita, die den Kopf schüttelt, weil sie vieles kompliziert finde, beim Schreiben, aber Haxe würde sie nie im Leben mit ks schreiben, und Christel, die gerade eine Diät macht und an ihrem Salat knabbert (und Vater damit, für sie unsichtbar, auf die Palme bringt, weil die Frauen, die ständig damit beschäftigt sind, schlank zu sein, ihn fast so nerven wie verhätschelte Hunde und Politiker, wenn sie einen nur zum Gähnen bringen), es gäbe Menschen, sagt Christel, die hätten ein fotografisches Gedächtnis, Ildi, vielleicht hast du ein fotografisches Gedächtnis für Buchstaben, und sie, sie würde sich gern Gesichter für immer und ewig merken, das schon, so Christel! Marlis, die sich mit einer grossen Portion Mittagsmenü hinsetzt, einen guten Appetit wünscht, sich dann dem Essen hingibt, Marlis, die, wenn sie nicht am Essen ist, ständig vor sich hinmurmelt, und wenn man sie anspricht, von ihrem "Hochzeiter" erzählt, der sie bald entführen wird, und sie werde uns alle zur Hochzeit einladen, der "Hochzeiter" habe ihr versprochen, dass es ein riesiges Fest gebe, Marlis, die mit ihren lichtblauen Augen neben der Welt lebt, denke ich, die seit Jahren verheiratet ist und der das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen worden ist, wie uns die Tanners erzählt haben, eine arme Seele, sagte Frau Tanner, aber sie tut ihre Arbeit, und es berührt mich auf eine seltsame Art, wie sie Vater Schaff nennt, ihm jeden Tag behutsam auf die Schulter klopft und sagt, Schaff, Sie müssen dann kochen, für uns, für meinen "Hochzeiter" und mich!