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Sprichst du Deutsch, fragt Anita Dragana, die ein bisschen abseits sitzt, noch kein Wort geredet hat, und Dragana lässt sich Zeit mit der Antwort, spreche ich Deutsch, sagt sie dann und zwackt von ihrer Brotscheibe Stückchen ab, lässt sie in die Sauce fallen, nicht viel, aber versteht sie alles, sagt Dragana über sich, tunkt die Brotstückchen und lässt sie rasch im Mund verschwinden (ich schaue weg, weil ich nicht zusehen kann, wie irgendwer irgendwas tunkt, am schlimmsten finde ich, wenn das Croissant sich im Kaffee aufweicht, tropfend in den Mund gesteckt wird), Dragana, die mich überrascht, weil sie ihr Wasserglas ein bisschen in die Luft hebt, mit einer feinen Stimme sagt, Gluck, für euch, für Eroffnung! Marlis, die sofort ihre Gabel fallen lässt, "Glück" ruft, Glück hat ein schönes langes Kleid, und von der Seite, da sieht man das Glück gar nicht, und wir lächeln, ein bisschen irritiert, Nomi und ich, wir bedanken uns für die Wünsche, und Christel steht auf, um uns allen einen Kaffee zu machen, bevor es dann losgeht.

Da wir, ausser im Service, in doppelter Besetzung arbeiten, kommen wir am Mittag nur massig unter Druck, Anita, die am Mittag so richtig auf Touren kommt, nicht müde wird, darauf hinzuweisen, dass heute nicht soviel los sei wie sonst, dass ein paar Stammgäste ausgeblieben seien (Christel, die meint, der Montag sei doch schon immer labil gewesen), der Salatteller sei kleiner als bei den Tanners, aber gleich teuer, findet Anita, die nicht für sich spricht, sondern für die Gäste, sagt sie, als sie uns vom ersten Tag an mit forschem Schritt und mindestens knielangem Rock alles überbringt, was die Gäste sagen oder wissen wollen: Herr Leuthold meint, der Kaffee sei nicht mehr so stark wie bei den Tanners. Wer ist Herr Leuthold? Der Herr da drüben, in der Ecke. Der Kaffee ist immer noch genau so stark, sagt Nomi, das kannst du Herrn Leuthold gern sagen (Nomi, deren Stimme nicht einmal im Anflug zittert). Frau Zwicky finde die neue Tapete ausserordentlich schön und festlich, was Geschmacksache sei, sagt Anita. Danke, dass du uns auf dem Laufenden hältst, aber wir müssen nicht alles wissen, und Nomi weicht Anitas Blick nicht aus, bleibt freundlich; ich verstehe das nicht, ihr könntet doch daraus lernen, von dem, was die Gäste sagen, so Anita, ja, stimmt, Anita, danke!

Und bereits am Abend, nach unserem Eröffnungstag, als wir mit Mutter und Vater erschöpft am Personaltisch sitzen, den Tag nochmals rekapitulieren, alle der Meinung sind, dass es eigentlich ziemlich gut gelaufen sei, zwar nicht ganz so viele Gäste gekommen seien, wie wir erwartet hätten, aber die Schwestern, ja, die Schwestern, und dass sie am Nachmittag nochmals gekommen seien, um Kuchen zu essen (wir werden schön rund und dick — wenn wir jeden Tag zu Ihnen kommen, doch das können wir uns leisten — in unserem Alter! eine Eigenart, die wir an Frau Köchli und Frau Freuler lieben, dass die eine einen Satz beginnt, die andere ihn beendet), schon an diesem Abend, als wir noch lange Zeit brauchen, um den Tag abzuschliessen, machen Nomi und ich Sprüche über Anita, wir nennen sie Hanuta, die keinen einladenden, sondern ausladenden Hintern habe, sie habe jeden zweiten Satz mit "also bei den Tanners war das"… angefangen, Anita, die eine Nullnummer sei, die sich ständig aufspielen müsse, weil sie ja den Betrieb, im Gegensatz zu uns, in- und auswendig kenne… Wir sind noch nicht fähig zu erkennen, wer Anita ist, aber in den nächsten Tagen und Wochen werden ihre Sätze immer unmissverständlicher: Ich wäre auch gern ein Asylant, fünf Franken am Tag, Ildi, damit lässt es sich doch leben, oder? Anita, die laut darüber nachdenkt, ob wir den Tanners Schmiergeld bezahlt hätten, ansonsten hätten sie doch nicht ausgerechnet uns das Mondial übergeben (das sage ja nicht sie, sondern die Gebrüder Schärer und ein paar andere). Als Nomi anfängt, ihr mit weit aufgerissenen Augen unsinnige Antworten zu geben wie: Das ist so, wir müssen die Antarktis retten, im Winter tue ich nichts lieber als Kerzenziehen — und ich, die Anita zusieht, wie sie bei gewissen Gästen lange stehen bleibt, abgedreht, ein bisschen zu nah an Köpfen, Ohren, und die Irritation, dass Anitas Gesicht mich immer an die Kunststoffhemden erinnert, die man nach dem Waschen nicht bügeln muss — als wir uns fast schon an Anita gewöhnt haben, kündigt sie, auf Ende Januar, was deswegen möglich ist, weil sie mit Mutter eine einmonatige Probezeit ausgehandelt hat, in der sie innerhalb der Monatsfrist kündigen kann, und Mutter zeigt mir im Büro den eingeschriebenen Brief: Sehr geehrter Herr Kocsis, sehr geehrte Frau Kocsis, hiermit kündige ich meine Anstellung als Serviertochter auf den 31. 1. 1993. Mit freundlichen Grüssen, Anita Kunz.

Ein paar Tage später kündigt Christel, und es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht entschuldigend erklärt, warum sie gekündigt hat, ihr Freund sei sehr eifersüchtig, er wolle nicht mehr, dass sie im Service arbeite, sie habe vor, eine neue Ausbildung anzufangen, im Bereich Astrologie, was ich denn eigentlich für ein Sternzeichen sei, Zwilling? Das habe sie sich schon gedacht, und sie habe schon lange einen Kinderwunsch, und sie habe das Gefühl, sie werde nicht schwanger wegen ihrer Arbeit, und ehrlich gesagt finde sie es auch schwieriger, im Mondial zu arbeiten, seit die Tanners weg sind, die Leute würden sie so viel fragen, und am Abend habe sie manchmal einen ganz wirren Kopf, sie könne sich nicht helfen, aber die Leute machten sie ganz schwindlig mit ihrer Fragerei, sie wisse manchmal selbst nicht mehr, wie sie heisse. Christel, die ich gern gemocht habe.

Erst später erfahren Nomi und ich, wie es zu Anitas Kündigung gekommen ist; Anita, die zu Vater gesagt hat, die Waren würden vom Fliessband fallen, wenn er mit diesem Tempo in einer Fabrik arbeiten würde, und Anita klopfte ein paar Mal mit der flachen Hand auf das Brett, wo Vater normalerweise das Brot schneidet, und sie hat ihm zugezwinkert, lachend, als er nicht reagierte, weiter in seinem Topf rührte. Herr Kocsis, das war doch nicht ernst gemeint, nur ein blöder Witz, sagte Anita, die offenbar darüber erschrak, dass Vater sie ignorierte, ihr dann die Kochkelle hinstreckte und fragte, warum sind Sie noch hier, wollen Sie meine Sauce probieren?

Mutter, die Vater von seiner Entscheidung, Anita zu kündigen, hatte abbringen wollen, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, ihn aber davon überzeugen konnte, es sei besser, wenn Anita nahegelegt werde, selber zu kündigen, dann werde auch nicht soviel geredet im Dorf.

Vater war zwar darüber aufgebracht, dass Anita ihn mit ihrem Spruch bezüglich seines Arbeitstempos beleidigt hatte, aber nicht das hat den Ausschlag gegeben, sondern dass Vater grundsätzlich humorlosen Menschen misstraut, wenn sie sagen, das war nichts, nur ein Witz.

Grenzpolizisten, Trauerweiden

Mit unserem Mercedes Benz stehen wir an der Grenze, Tompa, so heisst der Grenzübergang, und obwohl der Stern des Fortschritts uns unübersehbar auszeichnet, müssen wir, wie alle anderen, warten, warten, bis man schwarz ist, und mein Vater kocht vor Wut, lässt mit einem surrenden Geräusch die Modernität ihren Dienst tun, und das Glas verzieht sich gehorsam, damit mein Vater seinen Ellbogen aufstützen, in die heisse Luft hinaus rauchen kann, und gleich verwandelt der gute, gerechte Gott unseren Mercedes in ein Luftschiff, in zwei, drei Augenblicken werden wir alle anderen mit unseren weissen Schwingen überflügeln, weil wir die Guten sind, im richtigen System leben, wir werden nicht nur aus der Reihe tanzen, sondern von weit oben auf diese gottlosen Kommunisten hinunterspucken, irgendwann, sagt Vater, die Zeit wird mir Recht geben, und wieder kommt es mir so vor, als hätte die Sonne hier mehr Platz zum Brennen, interkontinentales Klima, so nennt sich das, heisse Sommer, eiskalte Winter.