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Mutter vergisst, den Seitengriff loszulassen, während Nomi und ich zum Zeitvertreib Wörter destillieren, weil wir schon schlau sind, weil wir wissen, dass es besser ist, Vater zu ignorieren. Tompa — Pat — Pam — Pot — Mot — Ma — Pa — Oma — Opa.

Tompa, der kleine ungarisch-serbische Grenzübergang, der in ein paar Jahren heillos überlastet sein wird, weil ab Mai 1992 das Embargo gegen Serbien und Montenegro verschärft, der internationale Luftverkehr aufgehoben wird und sich deshalb hier, beim winzigen Durchgang zum schwer erreichbar gewordenen Serbien, Tag und Nacht drastische Bus- und Pkw-Duelle abspielen werden.

Und hätten wir gewusst, was für ein Chaos an diesem Grenzübergang acht Jahre später, 1992, herrscht — tompa, das auf Deutsch "stumpf oder "dumpf heisst —, hätten wir wahrscheinlich nicht mehr weitergespielt, aber was hätten wir getan, wenn wir gewusst hätten, was hier geschieht?

"Top" haben wir vergessen, ja, antworte ich, und "Tom" und "Po". Und wir fangen an zu lachen, es beginnt mit einem leisen Kichern, einem Kichern, das immer lauter werden muss, weil wir uns gegenseitig anstecken, und das Kichern wird zu einem Glucksen, weil Vater so ernst in die Luft hinaus raucht, weil die Sonne unerbittlich auf das weisse Blech brennt, wir von der langen Fahrt übermüdet sind. Wenn ihr nicht sofort ruhig seid, übergebe ich euch den Kommunisten, jaja, denen da drüben, die so aussehen, als seien sie aus Stein gehauen, Mutter, die uns mit einem dringenden Blick bittet, still zu sein.

Und als wir endlich an der Reihe sind, blicken Nomi und ich mit Kindergesichtern in die strengen Augen des Grenzpolizisten, wir zeigen ihm, dass wir unschuldig sind, und nicht nur wir, sondern auch Vater; der aus Stein gehauene Kommunist bringt es fertig, dass wir ehrerbietig und wieder hellwach sind, er, der gelassen in unseren Pässen blättert, sich zwischendurch Zeit nimmt, seinen deutschen Schäferhund zu tätscheln, aber diesmal werden wir nicht so einfach davonkommen, fahren Sie bitte zur Seite, sagt der Polizist und macht eine minimale Handbewegung, die zeigt, dass er es ernst meint. Und diesmal werden wir Zeugen davon, dass es das wirklich gibt, die Untersuchung von Kopf bis Fuss.

Als wir endlich in der Kleinstadt einfahren, hat sich mein Vater noch nicht beruhigt, Nomi und ich drücken uns in den Rücksitz, mucksmäuschenstill und kraftlos hören wir den Wortschwall unseres Vaters, seine Flüche und Verwünschungen, und damals haben wir noch nicht begriffen, dass es nicht um Breschnew geht, der sich ins stinkende Knie ticken soll, nicht um die russischen Sportler, die sich mit ausgeklügeltem Doping Medaille um Medaille stehlen, nicht um die Zwiebeltürme, die ein Ausdruck von Kulturlosigkeit sind; erst viel später werden Nomi und ich verstehen, dass es hinter diesem ganzen Hass eine verschwiegene Geschichte gibt, die mitten in Vaters Herz führt, die Geschichte von Papuci, dem Vater unseres Vaters.

Diesmal werden wir unsere Schwester kennenlernen, wir gleiten an den Pappeln vorüber, den Akazien- und Kastanienbäumen, um die Bekanntschaft von Janka zu machen, die zum früheren Leben unseres Vaters gehört, Janka, unsere Halbschwester, die plötzlich im Fotoalbum klebte, als hätte sie schon immer dazugehört, wer ist denn das, fragte Nomi, und Mutter antwortete, das ist die Tochter deines Vaters, und natürlich dauert es eine gewisse Zeit, bis man begreift, was das heisst, die Tochter deines Vaters, das Kind aus erster Ehe; Vater hatte schon mal was mit einer anderen, witzeln Nomi und ich, um den kleinen, noch unbegreifbaren Schmerz nicht zu spüren, der im Wort "Halbschwester" verborgen ist, Janka also auf einem schwarz-weissen Bild, mit einer atemberaubenden Frisur, von deren höchstem Punkt ein winziger, aber markanter Schleier wegzuschweben scheint, die elegant gezähmten Locken, welche im Kontrast dazu und unübertroffen schön über die eine Schulter fallen, als könnte sie in ihrer Wildheit nichts bezwingen, und das soll unsere Schwester sein, fragt Nomi, Jankas Zeigefinger, der sich an einen ihrer breiten Nasenflügel schmiegt, so, als hätte sie gerade eine wichtige Frage erörtert, Hände, die ausserdem Spitzenhandschuhe tragen, und Nomis Frage prallt an Jankas Bück ab, Augen, die eine eigenwillige, ruhige Überlegenheit ausdrücken, uns zeigen, dass wir, Nomi und ich, noch weit entfernt davon sind, das Leben zu begreifen.

Und ich habe davon gehört, dass man aus dem Auto steigen kann, mit einem leichten Schwung, einer leichten Drehung im Körper, ich habe es bestimmt und schon mehrmals gesehen, wie sich der Brustkorb nach dem Aussteigen hebt, wie sich der Gesichtsausdruck in einer schwer zu beschreibenden Art mit der Maske der Gewissheit überzieht, dass man sich nun dem Recht zu schreiten hingeben kann, langsam, erhaben, und ich gebe dem weissen Blechflügel einen kräftigen Stoss, um mich rasch davonzustehlen, mich nicht den schamlosen, sehnsüchtigen Blicken der Kinder ausliefern zu müssen, die sich innert Sekunden um das Wunderwerk der Technik versammeln, mit offenen Mündern den Stern bestaunen, als wäre er mehr als eine Gabe Gottes, und ich habe es nie jemandem gesagt, dass ich mich in diesen Momenten auf eine ganz bestimmte Art elend fühle, mickrig, und wäre Gott neben mir gestanden, hätte ich ihn gefragt, ob er mir dieses Gefühl erklären könne, he, ruft Nomi, wart doch, nicht so schnell!

Wir treffen Janka nicht bei Onkel Móric und Tante Manci, auch nicht bei Mamika, sondern in einem winzigen Restaurant in der Nähe des Flusses. Und schon von weitem sehen wir sie, wie sie da steht, in einem zitronengelben Kleid, dessen luftiger Stoff mit dem lauen Sommerwind spielt, Janka, die sich schon vergrössern darf, hohe Schuhe trägt, da ist sie, sagt Nomi, und ich spüre meine kleinen Schritte, flüstere Nomi zu, dass ich ehrlich gesagt nervös sei, ich, die sich geschworen hatte, stolz zu sein, worauf? aber ja doch, der sandige Gehweg, an den ich mich genau erinnere, die Trauerweiden, die links und rechts den Weg säumen, und es war, als würden wir auf eine Geschichte zugehen, von der wir fälschlicherweise angenommen hatten, dass sie uns nichts, aber auch gar nichts angeht, das Leben unserers Vaters vor der Zeit unserer Mutter.

Hallo, sagen wir, hallo hallo (wie begrüsst man sich, wenn man sich zum ersten Mal sieht?), und Vater stellt uns vor, Janka, Nomi, Ildikö, Mutter, die sich bemüht, weiss, dass wir alle verklemmt sind, die das übernimmt, was eigentlich Vater übernehmen müsste, sagt, dass wir uns freuen, sie endlich kennenzulernen, Janka, die antworten kann, dass sie sich auch freut, Nomi und ich halten uns an unseren Getränken fest, Strohhalme haben wir leider nicht, sagt die Kellnerin und lächelt verlegen, und ich suche krampfhaft nach einer Frage, aber immer wieder sehe ich Jankas Foto vor mir, ihre fleischigen Lippen, die tatsächlich fleischig sind! ihr volles Haar, das in Wirklichkeit noch viel voller ist! ihre Augen, die sich bewegen, lebendig und vielfarbig sind, Jankas Lachen, das Zähne zeigt, die sich so scharf aus dem Bild herauslösen, als würde die Fotografie gar nicht existieren, und ich wünsche mir, dass wir einen Moment lang ganz still sind, nichts, nur wir, die da sitzen, uns möglicherweise nicht einmal anschauen, ich wünschte mir, dass wir die Angst vor der Peinlichkeit vergessen, uns einem Schweigen hingeben, das den Jahren entsprechen würde, die an uns vorbeigezogen sind, ohne dass wir voneinander wussten, und ich sitze neben Nomi, deren Geruch mir vertraut ist, deren Ohren ich kenne, Ohrläppchen, Bauchnabel, die, wenn ihr unwohl ist, ihre Hände unter den Schenkeln verstaut, ihren Rücken leicht krümmt, und Vater schnippt schon wieder mit dem Finger, um noch etwas zu bestellen, nein, ich will keine Limonade mehr, die mir Zähne und Zunge verklebt, aber Vater muss die Unsicherheit aus seinen Augen trinken, damit sie diesen trügerischen Glanz von "ich habe alles im Griff bekommen, und ich erinnere mich auch an die Kellnerin, die in ihren fersenfreien Gesundheitsschuhen aufgeregt hin und her trippelt, Vater, der natürlich erzählen muss, dass wir an der Grenze schikaniert worden sind, Mutter, die die in die heisse Sommerluft geschleuderten Anschuldigungen gekonnt ins Leere laufen lässt, wir haben dir ein Geschenk über die Grenze geschmuggelt, sagt Mutter und überreicht Janka ein Paket, wir haben's für dich eingepackt, sagt Nomi plötzlich, und ich frage mich, ob man das in so einem Moment sagen kann, vielen Dank, antwortet Janka, ihr hättet euer Leben nicht für mich risikieren sollen, und sie lacht, lacht über ihren eigenen Witz, denke ich, und was ist daran überhaupt lustig? Nomi stösst mir ihren Ellbogen leicht in die Seite, und natürlich sehe ich, dass Jankas Vorderzähne riesig sind, dass sich zwischen ihren Zähnen Spalten auftun, Abgründe des Hässlichen, kann man so überhaupt lachen?