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My darling, ruft Glorija, ich brauche noch einen frisch gepressten Orangensaft, und ich, mit meiner schwarz-weiss gestreiften Bluse, beeile mich, drei Orangen zu halbieren, die wunde Fläche auf den unteren Teil der Presse zu legen, den schwarzen Hebel rasch nach unten zu ziehen, zu drücken, bis schliesslich aus den Orangen der erwünschte Saft schiesst, und meine Mutter taucht hinter der Theke auf, fragt, ob sie mir helfen könne, ja, ich brauche noch zwei kalte Schokoladen, drei Rivella, einen gespritzten Apfelsaft, und eine Frage, die musst du mir auch noch beantworten, sage ich. Das hat aber noch ein bisschen Zeit, oder? und Mutter klemmt die kalte Milch mit dem Schokoladenpulver in den Mixer, Glorija, immer noch Bestellungen aufgebend, und die ziemlich laut surrende, blubbernde, pfeifende Komposition für Dampfhahn, Kaffeemaschine, Mixer verhindert im Moment sowieso jede Unterhaltung hinter dem Buffet, wir können bald eine kurze Pause machen, sagt Mutter.

Und als wir eine halbe Stunde später am Personaltisch sitzen, Nomi sich zu uns setzt, frage ich, Mutter, hast du noch nie daran gedacht, dass Tante Icu bei uns in der Küche arbeiten könnte? Ich meine, wir könnten doch wenigstens Tante Icu zu uns holen, und ich spreche ganz leise, fast flüstere ich, weil es plötzlich so still ist in der Cafeteria, sogar das dezente Ticken der Wanduhr ist zu hören, weil jetzt fast keine Gäste mehr da sind, Mutter, die mich anschaut, sie schaut mich lange mit ihren grossen Augen an, und ich weiss nicht, ob es stimmt, dass die Augen das Spiegelbild der Seele sind, vielleicht spiegeln sie wirklich etwas, das im tiefsten Inneren eines Menschen vor sich geht, aber was nützt einem das, wenn man es nicht zu lesen versteht? Ich, die gelernt hat, in Mutters Augen zu lesen, bin fassungslos, weil ich sie so nicht kenne, das Grün ihrer Augen, das fast schwarz wird, der flächige, weiche Glanz, der sich zu einem Punkt zusammenzieht, was ist los, denke ich, Mutter, sage ich (und schaue zu Nomi), ich habe mir gerade vorgestellt —

Meinst du, ich habe noch nie daran gedacht, was ich tun könnte für Tante Icu? Doch, schon, sage ich, aber Mutter lässt mich nicht weiterreden, ihre Augen, die mich ohrfeigen, weisst du, was ich nachts tue? weisst du, ob ich schlafe? du, du bist doch so empfindlich, Ildi, und jetzt? (Mutters Blick, der mich nicht am Ohr, sondern an der Wange trifft), und was meinst du würden Onkel Piri und Csilla tun ohne sie? wie soll sie denn ausreisen, wie sollen wir ein Visum für sie bekommen? meinst du, ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, was wir tun könnten, weisst du, wie oft ich schon vergeblich mit der serbischen Botschaft telefoniert habe, seit 1991 der Krieg ausgebrochen ist? Glaubst du, das lässt mich kalt, was unsere Familie jetzt ertragen muss? Nomi, die Mutters Hände nimmt, nein, das hat sie nicht gesagt, du bist nicht fair, sagt sie.

Fair? was ist das wieder für ein Wort von euch, von mir, sagt Nomi, fair heisst gerecht, gut, dann hab' ich wieder einmal etwas gelernt, und jetzt könnt ihr etwas lernen. Neulich habe ich Icu einen Brief geschickt und Geld, Deutsche Mark, mindestens ein halbes Jahr hätten sie und Onkel Piri davon leben können. Meint ihr, der Briefträger fährt dort wie in der Schweiz mit einem gelben Motorrad von Haus zu Haus und bringt mit einem freundlichen "Hallo" die Briefe vorbei? Meint ihr, die Post kommt noch da an, wo sie ankommen sollte? Meint ihr, es gibt da noch irgendeinen ehrlichen Menschen in den öffentlichen Ämtern? Wie soll ich es anstellen, dass auf meinem Brief keine Briefmarke aus der Schweiz drauf ist, sagt mal, habt ihr eigentlich schon mal irgendwas überlegt, das über eure Nasenspitze hinausgeht? (normalerweise sagt das Vater), Mutter, die schon längstens ins Ungarische gewechselt hat, offenbar vergessen hat, dass wir nicht zu Hause sind, ich will nicht über den Krieg — häborü — reden, hört ihr, wir können hoffen, dass es bald vorbei ist, das ist das Einzige, was wir tun können, Ildi, ich kann nicht verstehen, dass du so was fragst, ich kann nicht verstehen, dass du mitten in der Arbeit mit so was anfängst, so leichtfertig, Glorija, die den Kopf zu uns dreht, fragt, ob alles gut sei, ob sie uns noch einen Kaffee machen solle. Die Pause ist fertig, sagt Mutter, steht auf, schaut mich nicht mehr an, weder mich noch Nomi, und wahrscheinlich ist es ihr Kleid, die Art, wie ihr Kleid seitlich und energisch ausschwingt, die mir verrät, dass es eine fast unmenschliche Energie braucht, um die Normalität, den Alltag hier aufrechtzuerhalten — eine Energie, die ich nicht werde aufbringen können.

Nomi und ich, wir schauen uns kurz an, stehen dann gleichzeitig auf, um weiterzuarbeiten.

Ja, wahrscheinlich war es leichtfertig von mir, ich habe mir tatsächlich nicht viel überlegt, und dann war ich völlig erschlagen von Mutters heftiger Reaktion, wir, die eigentlich nie über den Krieg reden zu Hause, und als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, sagte Vater nur: das ist ein Krieg, der wird schnell zu Ende sein. Schnell? wie schnell, habe ich gefragt. Ein paar Monate, höchstens. Ein Verbrecher wie Milosevic hat heute keine Zukunft mehr in Europa, und es klang so überzeugend wie die Stimme eines geübten Fernsehsprechers, Vater, der sich seit Ausbruch des Krieges die frühen Nachrichten anschaut, die regulären, zur besten Sendezeit und die Spätnachrichten, er zappt vom deutschen zum österreichischen zum ungarischen Sender und wieder zurück (unsere Sprache, die seit ein paar Monaten per Satellit in unser Wohnzimmer gekommen ist), wir sitzen auf dem Sofa, Nomi, Mutter und ich, schauen manchmal mit, hören zu, worüber sie berichten, auf Ard oder im Orf oder mtv (Magyar Tekviziö), und wir warten, was Vater von seinem Sessel aus dazu sagt: Dazu braucht's Mut, ist aber das einzig Richtige, meint er, als Deutschland und Österreich die Unabhängigkeitserklärung von Kroatien und Slowenien anerkennen. Und wir sitzen am Esstisch, als im Mai 1992 der UN-Sicherheitsrat ein umfassendes Embargo gegen Serbien und Montenegro verhängt, endlich tun sie etwas, sagt Vater, es ist doch klar, dass einschneidende Massnahmen ergriffen werden müssen, um diese verdammten Kommunisten endlich zu vertreiben, die Kommunisten und die Serben, was ja ein und dasselbe ist! Und wir essen kalt, Brot, Schinken, Käse, hart gekochte Eier, eingelegte Peperoni, so wie wir es an allen anderen Abenden auch tun.

Vielleicht haben wir vergessen, dass die Vojvodina zu Serbien gehört, dass die einschneidenden Massnahmen, wie der Nachrichtensprecher sagte, wie Vater sagte (und auf Ungarisch klingen die einschneidenden Massnahmen noch einschneidender), auch unsere Familie treffen wird, dass das Handels-, Öl-, Luftembargo möglicherweise drastische Auswirkungen haben wird auf das Leben von Tante Icu, Tante Manci, Onkel Móric, Onkel Piri, Bela, Csilla, Grossonkel Pista, aber vielleicht haben wir gar nichts vergessen, denkt jemand von uns eine Sekunde lang sogar an Juli, an Julis Mutter oder an Herrn Szalma, Mamikas Nachbarn, möglicherweise fällt jemandem von uns das winzige Geschäft ein, an der Beogradska, wo Mutter ihre kaufmännische Lehre gemacht hat, dass dieses winzige Geschäft, in dem Nomi und ich jedes Jahr Salzstangen, Süssigkeiten, Tonic und Traubisoda gekauft haben, jetzt ganz leer ist, geschlossen, wie uns Onkel Móric und Tante Manci in ihrem letzten Brief geschrieben haben.

Wir essen, essen weiter, reden über den nächsten Tag.

Weisst du, was mit Mutter los war, frage ich Nomi, als wir zusammen Mittag essen.

Nicht so schwierig zu verstehen, antwortet Nomi, sie hat Angst.

Vater und ich, wir gehen zusammen den Hang hinunter, und ich wundere mich jedes Mal darüber, dass wir fast gleich schnell gehen, mein Vater hat kleine Füsse, denke ich, nicht viel grösser als ich, wahrscheinlich deshalb, und Vater zündet sich eine Zigarette an, meistens an derselben Stelle, wo man auf den See hinunter sieht, der jetzt noch schwarz daliegt, eingerahmt von Lichtern, von gelb bis orange, oder ist der Himmel der See? Zu dieser Tageszeit sind die Dinge noch nicht klar voneinander unterscheidbar, denke ich, Vater und ich, wir reden selten, wir gehen, und Vaters Rauch kitzelt meine Nase, ich weiss nicht, ob Vater unserem Gehen zuhört, den Geräuschen, unseren pendelnden Armen, unseren Schritten.