Du hast mit dem Studium aufgehört, hat Mutter erzählt, sagt Vater, in einen unserer Schritte hinein, nein, nicht aufgehört, nur reduziert, antworte ich, vorübergehend. Wird man dich nicht vermissen da, beim Studium, fragt Vater und zeigt mit der brennenden Zigarette auf einen Igel, der soeben unter einem geparkten Auto verschwindet. Kann mir ja alles selber einteilen, sage ich und möchte Vater bitten, still zu sein, weil ich diese Viertelstunde, in der wir schweigend zusammen gehen, mag, weil ich mich während der Zeit, in der wir uns in diesen dunklen Tönen bewegen, frei fühle, und ich könnte ein bisschen später ins Dorf hinunter fahren, mit dem Bus, dann könnte ich sogar länger schlafen, aber das will ich nicht, mich in diese Dorfbus-Atmosphäre setzen, frühmorgens in ausgeleuchtete Gesichter sehen, das ertrage ich nicht.
Die Schule ist das Wichtigste, sagt Vater, wir sind froh, wenn du uns hilfst, aber die Schule muss weitergehen, und ich sage nichts, sage nicht, Vater, hör auf, "Schule" zu sagen, das ist keine Schule, sondern die Universität, ich bin eine von zwanzigtausend Studierenden, die unklare Vorstellungen haben, sich in irgendwas vertiefen, sich in riesigen Bibliotheken verirren, und bis jetzt finde ich nur einen Professor überzeugend, der eigentlich gar kein Professor ist, sondern ein Privatdozent, an der Universität, meine Damen und Herren, werden Sie lebendig begraben, sagt er, ohne die Miene zu verziehen, Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie nichts weiter sind als Angestellte in einem musealen Betrieb, und wenn Sie das akzeptiert haben, können Sie anfangen, eigenständig zu denken, gegen den Strom zu schwimmen (Vater, dem ich gern erzählen würde, dass ich seit einem Jahr nicht mehr Rechtswissenschaften studiere, dass ich mir ein Semester lang Vorlesungen in Philosophie, Religionswissenschaften, Literatur, Pädagogik angehört habe, aber das Einzige, was mich interessiere, ist Geschichte, die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte; Vater, der mit Wissen schwer zu überzeugen ist, vor allem mit Geschichte, weil er ja Geschichte selber erlebt habe, deswegen reagiert er jetzt schon allergisch, wenn ich ihm etwas über den Zweiten Weltkrieg erzähle, hast du das in einem Buch gelesen, fragt er dann gereizt, der Zweite Weltkrieg passt in kein Buch, meint Vater, und da gebe ich ihm sogar Recht, und aus diesem Grund habe ich Vater noch nicht erzählt, dass ich Geschichte studiere, weil es für ihn am weitesten von dem entfernt ist, was ein sinnvolles Studium ist, gut, dass du nicht Zahnärztin werden willst, das kann ich ja verstehen, es gibt Schöneres als allen in die Innenausstattung zu schauen, aber warum nicht Ärztin? am besten aber Rechtsanwältin! Ein Beruf schwarz-auf-weiss, nennt das Vater, das brauchen die Menschen immer, weil sie immer streiten, und dann verdienst du viel Geld und kutschierst mich in einer Limousine durch die Welt — Vater, nachdem er ein paar Schnäpschen getrunken hat), und Vater bleibt plötzlich stehen, vor der Treppe, die zum Bahnhof führt, warum gibst du mir keine Antwort, und ich, ich habe schon die ersten zwei Stufen der Treppe genommen, bleibe dann stehen, drehe mich zu Vater, ich mache weiter, das hab ich dir ja schon gesagt, und ich merke, dass meine Stimme wenig überzeugend klingt, such dir einen anderen Grund, wenn du aufhören willst, sagt Vater und kommt auf mich zu mit seiner dunkelgrünen Wildlederjacke, Vaters Locken, die in diesem Dämmerlicht wild aussehen (ich, die Vater nicht sagen kann, dass sie immer noch am Suchen ist, weil das für Vater ein Reizwort ist, suchen, ihr sucht immer etwas, alles ist da, hängt vor eurer Nase, und was tut ihr? ihr seht Sternchen überall um euch herum, dreht euch im Kreis wie dumme Tiere), und als Vater auf der gleichen Stufe steht wie ich, schauen wir uns einen Moment lang an, ein Schnellzug fährt an uns vorbei, vielleicht hat Vater etwas gesagt, als es laut dröhnte, die kalte Luft uns ins Gesicht schlug, unsere Haare auffliegen lässt; wir nehmen im gleichen Schritt die Stufen, gehen durch die Unterführung und die paar Schritte, die es noch sind bis zum Mondial.
Drei Sonnen mit Strahlen und Gesichtern, die uns anlachen, als wir vor unserer Eingangstür stehen, was ist denn das? drei Flugblätter, A4, die fein säuberlich, mit durchsichtigen Klebstreifen fixiert, auf der Glasscheibe unserer Eingangstür kleben. Eine Einladung zum Puure Zmorge, sage ich, Bauernfrühstück, gratis! Was soll das? warum klebt das Zeug da an unserer Tür, und Vater fängt an, die Klebstreifen vom Glas zu kratzen. Die legen Wert auf unseren Besuch, sage ich, die Schweizerische Volkspartei, man darf umsonst Chd's und Wurscht essen, dafür wollen sie als Gegenleistung eine Unterschrift, in der man eine Initiative unterstützt, meist eine menschenfeindliche. Die ist hier gut vertreten, in der Gemeinde, die Svp, und ich schaue mich um, vielleicht ist er ja noch zu sehen, der Botschafter. Ist mir völlig egal, wer hier wie vertreten ist, sagt Vater, hilf mir lieber, wir haben nicht mehr viel Zeit. Lass sie doch kleben, sage ich, wir können ja noch einen Zettel dazuhängen, ein Dankeschön an die unbekannte Person, die uns zum Puure Zmorge eingeladen hat.
Hülye csiny, sagt Vater. Was? frage ich. Und Vater übersetzt, weil er glaubt, ich hätte die ungarische Wendung nicht verstanden, ein Streik, ein dummer Kinderstreik, sagt er, Streich, antworte ich (aber professionell geklebt, denke ich), und Vater und ich, wir kratzen, rubbeln an verschiedenen Stellen, und weil das Klebband hartnäckig ist, holt Vater eine Kuchenspachtel und Alkohol, so eine blöd gemalte Sonne kann man doch nicht ernst nehmen, sagt Vater (der sich nicht für die Schweizer Politik interessiert, die Politiker hier sind Schlafsäcke, die Schweizer Politik ist etwas für Rentner, sagt er und schaut sich die Debatten an, die vom deutschen Bundestag übertragen werden), Schweizerische Volkspartei, was soll denn das sein, fragt Vater mich in allem Ernst, das klingt für mich wie tiefster Kommunismus, Volk! Partei! Vater, der ganz offensichtlich alles wieder vergessen hat, was er für die Einbürgerungsprüfung hat lernen müssen, und ich frage mich, ob die Experten der Einbürgerungskommission meine Eltern auch über die Schwarzenbach-Initiative abgefragt haben, die so genannte Überfremdungsinitiative, die eine zahlenmässige Begrenzung des ausländischen Bevölkerungsanteils in der Schweiz erreichen wollte; Mutter und Vater, die nicht oft, aber ab und zu darüber erzählt haben, über die Wochen vor dieser Abstimmung, wie sie überhaupt von der Abstimmung erfahren haben, mit ihrem spärlichen Deutsch erst mit der Zeit begriffen, dass es um sie ging, um ihr Leben, dass etwa die Hälfte der Ausländerinnen und Ausländer die Schweiz hätte verlassen müssen, wäre die Initiative angenommen worden. Sie hätten Angst gehabt, in die Vojvodina zurückzukehren mit fast nichts, wieder von neuem anzufangen, zurück in diese jugoslawische Wüste, sagte Vater, zu diesen idiotischen Titoisten! aber ein gewisser Respekt sei geblieben seit diesem Schwarzback. Respekt? Ja, dass man immer damit rechnen müsse, ausgewiesen zu werden. Vater, der sich am 7. Juni 1970 ins Wohnzimmer von Herrn Fluri setzen und mit ihm Radio hören durfte, sein Chef habe eine Flasche Bier aufgemacht, mitten am Nachmittag, als der Radiosprecher das Resultat bekanntgab — ziemlich knapp, aber abgelehnt! habe sein Chef gerufen, und: Proscht, uf ois, auf uns, Miklós! Und sie hätten sogar eine zusammen geraucht, und er habe die Asche seiner Zigarette ganz vorsichtig in den Aschenbecher aus Kristall getippt. 75 %! habe sein Chef immer wieder gesagt, das sei eine grosse Sache! Miklós, du musst dir vorstellen, drei Viertel eines Kuchens ist an die Urne gegangen, um abzustimmen! Und Vater musste innerlich lachen, weil er sich vorstellte, wie ein angeschnittener Kuchen ins Gemeindehaus spaziert, um einen Zettel in den Schlitz zu werfen. Hin grosse Dank an Schmiß, sagte mein Vater, als sie das nächste Mal die Gläser gegeneinander stiessen, und sein Chef sei ganz gerührt gewesen über seinen Trinkspruch, ja, Miklós, Prost! es grosses Dankeschön ad Schwüler Männer!