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Als wir die Fensterscheibe nochmals prüfen, ob sie wirklich sauber ist, ich Vater noch etwas über die Schweizerische Volkspartei erzählen möchte, grüsst uns schon der erste Gast, guten Morgen, ich bin etwas zu früh, sagt er, ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Nein, nein, antworte ich schnell, als müsste ich etwas verbergen, die drei Flugblätter, die ich noch in der Hand halte, wir sind ja auch schon da, sage ich, und der Gast lacht, ja, tatsächlich! und wir lachen alle zusammen, über meinen Witz, der nicht beabsichtigt war.

Heute arbeite ich im Service.

Und auch mein Rücken ist aufgeregt, ich habe ständig das Gefühl, dass ich jemanden übersehe, der bestellen oder zahlen will (den Überblick darf man beim Servieren nie verlieren!), und ich bestelle fünf Kaffees, drei Espressi, zwei dunkle Milchkaffees, Nomi, die mittlerweile hinter der Theke steht, heute hinter dem Buffet arbeitet, die Glückliche, denke ich (in einem Kleinbetrieb, in einem Familienbetrieb muss man jeden Arbeitsschritt von Grund auf beherrschen), Nomi, die schnell arbeitet, genau, die mir hilft, weil ich den Überblick zu verlieren drohe, jetzt, um neun Uhr, und die Tür geht ständig auf und zu, die Beamten und Bauarbeiter, die alle um dieselbe Zeit Pause haben, möglichst rasch bedient werden wollen, Nomi, die mich mit einem Blick beruhigen kann, mit einer kleinen Geste, die mir ein Glas kaltes Wasser hinstellt, und es ist eine Kunst, im Service auch beim schlimmsten Ansturm allen das Gefühl zu geben, dass sie, das Fräulein, nur dazu da ist, die unterschiedlichsten Wünsche schnell und ohne Hektik zu erfüllen, und wenn man wirklich professionell ist, kann man da und dort noch etwas Passendes sagen, ein unaufdringliches Kompliment platzieren (Sie haben aber eine schöne Brosche), und wenn man so professionell ist, dass einem niemand die Professionalität anmerkt, dann läuft wirklich alles spielend, rund, und jeder Gast fühlt sich individuell bedient, nicht abgefertigt, merkt nicht, dass jeder Platz in der Cafeteria besetzt ist.

Nomi stellt meine Bestellung aufs Tablett, was eigentlich meine Aufgabe wäre, Nomi, die ausserdem das Radio nie anstellt, wenn ich im Service arbeite, weil sie weiss, dass mich das nervös macht, der Pfister hat sein Ei schon bekommen, sagt sie leise und zwinkert mir zu (und Mutter hat uns verboten, uns in unserer Geheimsprache zu unterhalten, weil das die Gäste provoziert, dann glauben sie, dass wir über sie tratschen), ich setze mich mit vollem Tablett in Bewegung, um die Menschen zu besänftigen, denke ich, und ich mag die Bauarbeiter, ihre ausgehungerten Augen, die ungeduldig warten, ihre müden Gesichter, die sich keine Mühe geben, nett auszusehen, sechs, sieben Männer, die am Tisch sitzen, rauchen, kauen oder Kaffee trinken, die aber vor allem eines nicht wollen, nämlich zuviel reden, guten Morgen! und ich stelle die Kaffees auf die zusammengerückten Tische, alle trinken Kaffee, stark, mit viel Zucker, und auch deswegen mag ich die Bauarbeiter, weil sie klare Wünsche haben.

Um neun Uhr ist der Lärmpegel hoch, es fällt deshalb niemandem auf, dass das Radio ausgeschaltet ist, und das ist der einzige Vorteil am Neun-Uhr-Ansturm: Im Stimmengewirr beschwert sich niemand darüber, dass Friedhof ist (Glorija, die sagt, dass Friedhof sei, wenn keine Musik läuft, Musik gehöre dazu, um sich wohl zu fühlen, beim Kaffee trinken, im Zeitschriften blättern, eine schöne Melodie mache den Tag positiv), unterschiedliche Tonlagen, Dialekte, gepresste Nackenstimmen, die sich immer durchsetzen wollen, und nuschelnde, undeutliche Stimmchen, zu denen ich mich dezent hinbücke, und gerade in diesem Stimmenchaos fällt mir auf, welche Stimmen wie auf mich wirken, dass es manchmal nur ein Wort in einem schrillen Frequenzbereich braucht, Froilein zallel, dass ich mich in mein Innenleben zurückziehe (es gibt keinen schlimmeren Fehler im Service als die Nerven zu verlieren, in der Küche geht das, im Service nie, nicht einmal im grössten Stress!), ja, Mutter hat schon recht, ich arbeite nicht gern im Service, und das Einzige, was mich herausfordert, ist, ob ich es schaffe, von sechs bis zwei ein Fräulein zu sein (es geht also gar nicht um die Nerven, denke ich).

Laufen, das ist ein weiterer Grundsatz, ist absolut verboten, egal, was passiert, egal, wie rasch sich die Cafeteria füllt, man darf höchstens schnell gehen (zackig, aber nicht überhastet, flink, aber niemals übereilt), eine Kellnerin, die rennt, hat bereits etwas verpasst, ist schon zu spät (wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass uns unsere Arbeit leicht fällt, versteht ihr?), und ich, die versteht, versuche, um neun Uhr den Überblick nicht zu verlieren, elegant beiläufig den Kaffee zu servieren, einzukassieren, die Gäste nicht zu drängen (auch wenn wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht), und Nomi übernimmt die Tische bei der Theke, die Strumpfhose übt einen unangenehmen Druck auf meine Schenkel aus, Nomi, die mir zu verstehen gibt, dass wir alles im Griff haben, um halb zehn wird der Spuk vorbei sein, mein Blick zur Wanduhr, und es ist nicht wahr, dass die Zeit schnell vergeht, wenn man viel zu tun hat, Nomi und ich, die genau wissen, dass die Zeit zwischen neun und halb zehn in einzelne, endlos lange Minuten zerfällt und wie viele Blicke, Hände, Krawatten, Blusen, Eheringe, Turmfrisuren, Glatzen, Zigarettenmarken, Duftnoten, Titelseiten, Schlagzeilen man in einer halben Stunde aufnehmen kann oder zumindest mit dem Blick streifen kann.

Du, wie sich die auf dem Balkan die Köpfe einschlagen, und die Serben, das ist eine ganz schön kriegerische Meute, die sind wie die Hyänen (Herr Pfister, der Umzüge organisiert, weltweit, auch nach Übersee, der sich mit seinem Freund unterhält), Sie haben eine helle Schale bestellt, oder? Ja, danke schön, und wie heisst der Serbenführer in Bosnien? Ah ja, Mladic, genau, danke, Fräulein, der und Milosevic, die sind noch schlimmer als echte Nazis, glaub mir.

Frau Müller, Frau Zwicky, Herr Pfister, Herr Walter, Frau Hungerbühler, Herr und Frau Schilling, der Lehrer, die Kassiererin, der Gärtner vom Nachbarsdorf, die Coiffeuse, die bis anhin den Kaffee bei der Konkurrenz getrunken hat, die Postbeamten, die Bauarbeiter, sie alle wollen einen Kaffee und möglicherweise etwas dazu, möchten Sie etwas dazu, etwas Süsses oder etwas Salziges?

Und stimmt es eigentlich, dass Milosevic' Vater Schuhmacher war?

Es ist nicht wahr, dass die Zeit schnell vergeht, je schneller man arbeitet, desto langsamer vergeht die Zeit, ja, Frau Wittelsbacher, ich komme gleich, und es ist eine Kunst, alles reibungslos hinzukriegen, so zu arbeiten, dass alles läuft wie geschmiert, Tisch zwei und drei wollen zahlen, sagt Nomi (ja sofort, ich komme gleich), ein Spezialwunsch, der einen auch zwischen neun und zehn nicht aus dem Konzept bringen darf (ja, selbstverständlich!), der Schnabelkragen meiner umständlichen Bluse, der sich bei jedem Schritt bemerkbar macht (finden Sie? danke! ja stimmt, das ist eine Farbe, die ich sonst nicht trage), Nomi, die mir wieder ein Glas Wasser hinstellt, Frau Hungerbühler, die ihren zweiten Schuh sucht, sie hüpft mit einem Schuh zur Theke, sagt, die Kinder hätten ihren zweiten Schuh gestohlen, die Rotzgören, wo sind sie? ich, die unter die gepolsterte Sitzbank kriecht, um Frau Hungerbühlers zweiten Schuh zu finden (und das alles zwischen neun und halb zehn), den dunkelblauen Halbschuh, der geduldig im hintersten Eck auf Frau Hungerbühlers Fuss wartet, auf meine Hand, die Frau Hungerbühler ihren Schuh überreicht, vielen Dank, herzlichen Dank, und was kann ich Ihnen dafür geben? (eine weitere Regel, die man nicht vergessen darf: Nie mit leeren Händen gehen, man kann immer, vor allem zwischen neun und halb zehn, etwas mitnehmen, Teller, leere Tassen und Fläschchen, zerknüllte Servietten, die Aschenbecher nicht vergessen, wer setzt sich schon gern an einen Tisch mit Kippen), wie kam der Schuh bloss dahin? Das ist mir völlig unerklärlich! Nomi fragt, ob sie mich ablösen solle, und Frau Hungerbühler, die mir bestimmt einen Fünfliber in die Hand drücken wird, ein Fünffrankenstück (fürs Hinknien, fürs Suchen, fürs Finden, fürs Schwitzen), nein, ich schaff das schon, sage ich, und Frau Hungerbühler nimmt meine Hände, ich wohne nicht weit von hier, am Hornweg, besuchen Sie mich doch, wenn Sie mal Zeit haben, das würde mich sehr freuen! und ich, die darüber so überrascht ist, dass Frau Hungerbühlers Augen die Einladung wirklich ernst meinen, bin unfähig, die passenden Worte zu finden, sage nur, ist schon gut; statt mich über Frau Hungerbühlers unerwartete Herzlichkeit zu freuen, ärgere ich mich über Herrn Pfister, der sich gern amüsiert, der herzhaft und ausgiebig lacht, wenn ich auf meinen Knien umherrutsche, um Frau Hungerbühlers Schuh zu finden, und Fräulein, sagen Sie mir doch, warum arbeitet Anita nicht mehr hier? die war doch gut, die war doch ausgezeichnet? und ich, die also zwischen neun und halb zehn plötzlich die Augen von Herrn Pfisters Hund vor sich sieht, dunkelbraune, schreckhafte Augen, ein schwarzes Fellknäuel, das sich unter die Sitzbank verzogen hat, ich, mit Bluse und Jupe auf Knien, habe eine nasse Hundeschnauze vor mir, und ich werde Herrn Pfister irgendwann, so wie sein Hund es tun würde, ins Bein beissen, warum? Wahrscheinlich, weil Herr Pfister sich ein bisschen bückt, unter die Sitzbank schaut, zu mir und zu seinem Hund sagt, ich bin ja selbst Arbeitgeber, ich weiss ja, dass der Schweizer heute andere Ansprüche hat, und dann, wenn die Schweizer erst mal weg sind, muss man sich mit Albanern oder sonstigen Balkanesen zufrieden geben; Herr Pfister, der jetzt irgendwas merkt, bei Ihnen, das ist ja etwas anderes, Sie sind ja schon eingebürgert und kennen die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes, aber die, die seit den 90ern kommen, das ist ja rohes Material, sagt Herr Pfister und sitzt wieder aufrecht, spricht nicht mehr zu mir und seinem Hund, sondern wieder zu seinem Freund, der sicher auch Arbeitgeber ist, wissen Sie, der homo balcanicus hat die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht, sagt Herr Pfister, übrigens, mein Hund beisst nicht, ruft er mir zu, und sein Lachen erschüttert die Sitzbank, die gepolsterte, gemütliche, senfgelbe, und ich finde, dass die Aussicht unter einer Sitzbank überraschend ist (vor allem zwischen neun und halb zehn), und während ich mich strecke, um Frau Hungerbühlers Schuh aus der Ecke zu fingern, beobachtet mich dieser aufmerksame Hundekopf, und einen Augenblick lang denke ich daran, dass man Hunde retten müsste, unbedingt die Hunde, man müsste sie retten vor schamponierten Teppichen, Hundeparcours, Flanellhosenbeinen und lustigen Witzen (wissen Sie eigentlich, wie mein Hund heisst, fragt Herr Pfister vergnügt), die Aussicht also ist überraschend, etwas ganz anderes, unter den Bänken die Beine, Socken, Strümpfe, Croissantkrümel zu sehen, Herrn Pfisters Waden, die erstaunlich dünn sind, der wuschlige Hundekopf, der mit all dem nichts zu tun hat, haben Sie ihn, zittert Frau Hungerbühlers Stimme, ja! und nächstes Mal werde ich länger bleiben, werde mich womöglich zu Herrn Pfisters Hund legen (vielen Dank!) mit meiner umständlichen Bluse und meiner Stützstrumpfhose, ich werde das tun, um das Mondial aus einer anderen Perspektive zu sehen, ein amüsanter Gedanke, ein erschreckender Gedanke, dass ich da liegen bleiben möchte, bei den unter den Sitzbänken unsichtbar gemachten Heizkörpern, ich, die schwitzt, bin ganz nass, weil ich mehr als schwitze, der Schweis s bricht aus mir heraus, Tisch sieben, der mich fixiert, die Gebrüder Schärer mit ihren doppelt hintergründigen Augen. Entschuldigen Sie, sagt Herr Pfister, als er aufsteht, sich sein Jackett zuknöpft, ich finde, Sie machen Ihre Sache sehr gut (danke schön, ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Pfister, bis morgen!), ich, die sich trotz allem geschmeichelt fühlt, ärgere mich, über sie, die ich bin.