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Vater hat heute gar nichts gefragt, sagt Nomi, Mutter hat ihn wahrscheinlich bearbeitet, ich habe gehört, wie sie gestern zu ihm gesagt hat, dass wir, wenn er sich weiter so benehmen würde, bestimmt bald ausziehen, davor hat er, glaub ich, wirklich Angst, sagt Nomi. Meinst du? Ja, ganz sicher.

Was war denn gestern los, fragt Nomi und klopft gegen meinen Kopf im Fenster, du hast plötzlich so anders ausgesehen, ich weiss gar nicht, Ildi, manchmal mache ich mir Sorgen um meine grosse Schwester, und ich, die mit dem Zeigefinger Nomis Nasenspitze im Fenster antippt, Sorgen, warum denn? Ich komme mir manchmal so unwirklich vor, im Service vor allem, vielleicht sogar unecht, dann fange ich an zu schwitzen, alles dreht sich… Unecht, fragt Nomi, das verstehe ich nicht, in einem normalen Betrieb ist man doch weder echt noch unecht, und Nomi nimmt einen Schluck aus der Dose, die Gäste wollen was von uns, wir wollen was von ihnen, und das Reizvolle daran ist, dass in diesem Umfeld alles ein bisschen ist wie Katzengold. Das gefällt mir, Katzengold, antworte ich, ich glaube trotzdem, dass es einen echten Kern geben muss, in der eigenen Arbeit… Mein Kern geht niemanden im Mondial was an, unterbricht mich Nomi, und mein echter Kern schon gar nicht, Ildi, verbeiss dich nicht in Dinge, die sich nicht ändern lassen; Nomi, die mich in die Arme nimmt, lass uns von was anderem reden, von unserer Zukunft beispielsweise, von unserer Zukunft? Ja, weisst du, was wir tun, wenn wir alt sind? und Nomi berührt mit ihrer Nasenspitze meine Stirn, wir ziehen zusammen wie Frau Köchli und Frau Freuler, und wir zotteln gemeinsam durch den Nachmittag, essen grandiose Süssigkeiten, wir lesen uns vor, also du liest vor, und ich höre zu. Ich kann mir eigentlich nichts Schöneres vorstellen, antworte ich.

Wohlgroth, so heisst unser Ort, eine ehemalige Fabrik, die jetzt besetzt ist, wir gehen auf den Häuserkomplex zu, vor dem sich Müllsäcke türmen, besprayte Container, die überquellen, Fahrräder, die kreuz und quer rumstehen, schon viel los, sagt Nomi, die Aussenwände sind bemalt, verschmiert, sagen die einen, Farbkleckse, Striche und Figuren, Zeichen, Botschaften, und Nomi und ich, wir halten uns an den Händen, als seien wir ein Paar, man kennt uns, hallo, ihr beiden, ruft Suhansky, seine Augen stehen schon schief, na, wie steht's, wie geht's? und selber? und im Innenhof brennt ein Feuer, Hunde, die ums Feuer rennen, andauernd die Richtung wechseln, heulen, was ist denn hier los? ach so, ah ja, ein heidnisches Frühlingsfeuer, und Nomi und ich, wir bleiben einen Moment lang stehen, sehen den Hunden zu, wie sie immer wilder werden, als jemand noch einen halben Stuhl ins Feuer wirft, kaputtes Kinderspielzeug, irgendwelchen Müll, Zeitungen, Zeitungen, einen ganzen Stoss voll, verdammte Lügner, diese Journis! schreit Suhansky, halt die Klappe, ruft ein anderer, der seinen Hund zu beruhigen versucht; komm, wir gehen nach oben, sagt Nomi, ja, die Treppe hoch zu unserem Lieblingscafe, wo man die Stadt sieht, die Gleise, wo ich gern sitze, um die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten, wo ich das erste Mal in meinem Leben einen Tschai getrunken habe, was nichts Verrücktes ist, sondern ein Gewürztee mit Milch und Honig, aber ich kam mir verwegen vor, wichtig; man kennt uns, weiss, dass wir aus Jugoslawien kommen, das ist fast so, als käme man aus Moskau — und Nomi und ich, wir rauchen, zeigen uns gegenseitig, was sich seit unserem letzten Besuch verändert hat, eine Madonnafigur aus Plastik, die über der Bar flimmert, in Rosa, Gelb, Hellblau und Grün, das gesprayte Wandbild, das weiterwuchert, unzählige Figuren, die ineinander verschlungen sind, Menschen, die zu Tieren mutieren, schau mal das Monster da, sagt Nomi, zeigt auf ein menschenähnliches Ungetüm, das mit aufgeblähtem Kopf, aber perfekt gezogenem Mittelscheitel Münzen und Geldscheine in seinen Hals wirft, ein gut durchbluteter Hals, sage ich, und wir lachen, weil die roten Bahnen so gut gesprayt sind, dass man das Blut wirklich pulsieren sieht, weil wir uns vorstellen, wie es wäre, wenn unsere Gäste die Tür aufmachten, und sie sähen als erstes dieses Bild, und es würde die ganze hintere Wandfläche des Mondial abdecken und sich markant abheben von den senfgelben Tischtüchern aus Leinen, der Wanduhr, den Vasen, den hellen Schlaufengardinen, Fräulein, darf ich Sie fragen, haben Sie das gemalt? ist dieses Bild ein Symbol für irgendetwas?

Mark und Dave, die sich zu uns setzen, wir möchten uns auch amüsieren, ja dann, antwortet Nomi lachend, erzählt uns doch einen Witz! Wo habt ihr zwei gesteckt, die ganze Woche, fragt Mark und begrüsst zuerst mich, dann Nomi. Fängt der Witz so an, frage ich, und Dave küsst Nomi, ziemlich lange, finde ich, willst du auch geküsst werden, fragt Mark, nein, aber kannst du mir verraten, wie die Band heisst, die da aus den Boxen kommt? Guts Pie Earshot, sagt Mark, was für ein Name, was für eine Stimme, sage ich, die spielen heute auch, und Mark zieht mit seiner Zungenspitze eine Linie auf seiner Zigarette, löst das Papier, reibt den Tabak zwischen Daumen und Zeigefinger, kommen aus Deutschland, Mark, der den Tabak mit Gras vermischt, ist eine richtige Politband, sagt Mark, ohne aufzuschauen, spielen nur in besetzten Häusern, für politische Aktionen, konsequent, sage ich, Nomi und Dave, die sich immer noch küssen, Mark, der mir den Joint hinhält, ich, die eigentlich nicht will, ziehe, ziehe lange, bestellst du mir noch einen Tschai, sage ich, der verpennte Typ hinter dem Buffet macht mich krank, Mark, dessen tief sitzende Jeans ich mir anschaue, seinen Kapuzenpullover, der einen Streifen Haut frei lässt, einen Tschai mit Rum, rufe ich Mark nach, versteht sich! (Und einen Moment lang bin ich für mich allein, sehe die Schienen, wie sie sich kreuzen, ich, die es liebt, nachts Reisende ein paar Sekunden lang zu beobachten, manchmal dem Glück eines gelösten Gesichtes zu folgen, das einer Hoffnung entgegenfährt, ich könnte stundenlang hier sitzen, um überallhin zu fahren, wo ich noch nie war, nach Barcelona, mit dem Talgo und weiter nach Madrid, Lissabon, ich bin keine Reisende, sondern eine, die weggeht und nicht weiss, ob sie jemals zurückkommt, und jedes Mal, wenn ich weggefahren bin, habe ich mein Zimmer peinlich genau aufgeräumt, habe meine Kleider, die ich nicht mitgenommen habe, frisch gewaschen, ordentlich zusammengelegt oder im Schrank aufgehängt; meinen Spiegel habe ich abgedeckt, damit er das Zimmer ohne mich nicht sieht, mein leeres Schreibpult, das alphabetisch geordnete Bücherregal, das frisch bezogene Bett, ich habe mich immer auf eine Abreise ohne Rückkehr vorbereitet, wenn wir in die Vojvodina gereist sind, und das war lange Zeit die einzige Richtung, in die ich gefahren bin.)

Ich hab dich in keiner Vorlesung mehr gesehen, sagt Mark, als er den Tschai auf den Tisch stellt, wir sind im Moment ziemlich beschäftigt, sagt Nomi für mich, womit denn, will Dave wissen, wir helfen unseren Eltern, antworte ich, Mark, der seinen Joint wieder weiterreicht, euren Eltern, helfen? Ja, stell dir vor, wir arbeiten an der Goldküste, in einer Cafeteria, sieht da ein bisschen anders aus als hier, und Nomi und ich, wir lachen, und Mark sagt, wir sind mit zwei Goldküstenbarbies unterwegs, das hätt' ich nicht gedacht, und er lacht auch, warum lachst du, frage ich, Nomi, die mehrmals am Joint zieht, sagt, wir sollten uns alle lieben, und Dave fragt, wir könnten doch mal bei euch vorbeikommen, ich möchte euch zu gern sehen, wie ihr zwei da in diesem Goldküstencafe rumdüst, und ich, die einen Schluck Tschai nimmt, der nur nach Rum schmeckt, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist; warum nicht? die sollen uns ruhig besuchen, meint Nomi, und das Cafe gehört euren Alten? Wie heisst die Band nochmals, was für ein Earshot, frage ich, ziehe am Joint; Themenwechsel meinst du, sagt Mark, und ich schaue ihn an, sein weisses, schmales Gesicht, die langen Zähne, sein zerknautschtes, dichtes Haar, ich mag das nicht, diesen Ausdruck, "meine Alten", sage ich und frage zurück, was machen deine Eltern? So what? hab ich was mit meinen Alten zu tun, antwortet Mark, ich nicht, im Gegensatz zu dir, zu euch, ihr bekommt den cash von den Eltern. Und du, woher hast du dein outfit, frage ich (und gleich wird alles gut sein, gleich wird das Gras einfahren, denke ich, gleich werde ich Tierköpfe sehen und keine Menschengesichter mehr, gleich wird sich Mark in eine Katze verwandeln und ich in eine Maus oder umgekehrt), Post, Nachtschicht, sagt Mark, der gut aussieht, als er es sagt; seit drei oder vier Monaten, frage ich, Ildi, komm schon, sagt Mark, küss mich, du bist ein Biest, wenn du anfängst zu denken, und alle lachen, ich lache mit und sehe Benno vor mir, Benno, den man auch leicht übersehen könnte, in seiner ewigen Jeansjacke, mit den hochgezogenen Schultern, schon lange nicht mehr gesehen! Benno, der sich zu uns setzt, nie jemanden grüsst, sondern: Ihr, was denkt ihr über die Belagerung von Sarajevo? wisst ihr schon, dass ein Tunnel gebaut wird? seit ein paar Wochen wird Tag und Nacht gebuddelt, die Stadt braucht diesen Tunnel, sonst geht da nix mehr, sagt Benno, der immer mittendrin ist, im Kriegsgeschehen, und tatsächlich Dinge weiss, von denen wir keine Ahnung haben; dürfen wir dazwischen einen Schluck trinken, sagt Dave, sonst trocknen wir noch aus! Konsum macht blöd, das wisst ihr ja selbst, ja, Benno, das wissen wir schon, von dir, aber erzähl mal von diesem Tunnel. Ist noch nicht in den Medien, sagt Benno, ohne die Miene zu verziehen, der Tunnel soll unter dem Flughafen von Sarajevo durchführen, der Flugverkehr ist ja lahmgelegt, da geht nichts mehr rein und raus, ein Überqueren der Start- und Landebahn ist wegen den serbischen Heckenschützen unmöglich, versteht ihr? Und wir lassen den Joint weiter kreisen, Benno, der abwinkt, wir müssen uns doch mal grundsätzlich überlegen, was das heisst, wenn eine ganze Stadt belagert wird, hey, wir hier spielen so ein bisschen Freiraum, in Sarajevo kämpfen die ums nackte Überleben, komm schon, sagt Dave, ist Samstagabend, oder willst du dich als Freiwilliger melden? Genau, sagt Benno, entweder man ist Höhlenmensch oder kultiviert, so blöd sind wir inzwischen, dass wir das glauben, mach die Ohren zu, wenn's dich nicht interessiert, ich rede sowieso in erster Linie zu den Schwestern, ihr beiden, wir suchen noch Leute, die bei unserer Mediengruppe mitarbeiten, wir sammeln unzensierte Informationen, auch Geld, damit wir die einzige noch unabhängige Zeitung in Sarajevo unterstützen können, und euch könnten wir gut brauchen, ihr könnt doch Serbokroatisch, das würde uns helfen, sagt Benno, schaut uns fragend an. Kein Wort können wir, sage ich. Ich dachte, ihr kommt aus Serbien. Ja, schon, aber aus einer Stadt, in der hauptsächlich Ungarisch gesprochen wird, und wir sind beide schon hier zur Schule, sonst hätten wir Serbisch gelernt, sagt Nomi. Verstehe, ihr kommt aus der Vojvodina, schade, ihr könnt ja trotzdem mal vorbeischauen, wir treffen uns immer dienstags, am Abend. Wo? Hier oben! Benno, der seine Schultern hochzieht, schon wieder verschwunden ist.