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Trotzdem haben wir nicht gefeiert, als Vater und Mutter die Einbürgerungsprüfung beim zweiten Mal geschafft haben, so, das ist erledigt, sagte Vater, und Mutter räumte die Unterlagen weg, das Staatskundebuch, er setzte sich in seinen Sessel, sie aufs Sofa, und wir sahen sie erwartungsvoll an, aber Vater knipste den Fernseher an, Mutter langte nach ihrem Strickzeug. Und, fragte Nomi, und was, antwortete Vater, wir sind ja noch keine Schweizer, die Schweizer müssen erst mal noch abstimmen für uns. Die Beamten waren jedenfalls sehr nett, sie haben uns zur bestandenen Prüfung gratuliert, so Mutter.

Hörst du, wie sie rufen, fragt mich Dragana, wenn du genau hörscb, harsch du ihre Stimme, und Draganas Augen irren umher wie kleine, verlorene Kugeln. Unsere Familien rufen uns und was tun wir? und sie packt meine Hände, ich muss etwas tun, harsch mir zu? (Dragana, die unter der Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends in unserer Küche arbeitet und am Wochenende, mit ihrem Mann, für ein Putzinstitut), ich kann doch nicht zusehen, wie die meinen Sohn totmachen, erschiessen oder aushungern!

Vor einem Jahr hat die Belagerung von Sarajevo begonnen, sagte gestern die Stimme im Fernsehen, am 5. April 1992.

(Vater, der mit einem Ruck aufsteht, das geht doch in keinen Kopf, sagt er, dass es ein Jahr später da unten noch genauso aussieht, das ist doch nicht menschenmöglich, und Vater geht auf die Wohnwand zu, die geduldige, dunkelbraune, zieht den Griff nach unten, langt nach der Flasche, füllt seinen Whisky ins Glas, geht in die Küche, zum Eisfach, und wir hören, wie er die Würfel aus dem Behälter klopft, irgendwer macht da einen Fehler, sagt Vater, als er wieder ins Wohnzimmer kommt, sich mit seinem Glas in den Sessel setzt. Kommt nicht Dragana aus Sarajevo, fragt Nomi, ja, klar, aber ist sie Serbin oder Kroatin? oder sogar Muslimin? weiss ich nicht, antwortet Vater, will ich gar nicht wissen, es ist besser, wenn wir uns da nicht einmischen, und er zappt zum ungarischen Sender; wir können es uns nicht leisten, im Geschäft über Politik zu reden, sagt Mutter, vor allem jetzt nicht, wo die Lage immer angespannter ist — wisst ihr was, wir müssen den Leuten zeigen, wir sind Individien, und irgendwann werden sie uns nicht mehr bemerken, dann sind wir Luft für sie, das ist am besten, und wenn euch irgendjemand nach eurer Meinung fragt, wir haben keine Meinung —)

Ildi, hörst du nicht, wie sie rufen? Und ich, die nicht weiss, was sie sagen soll, überall behaupten sie, wir Serben sind schuld, und Dragana presst meine Wangen zwischen ihre Hände, die im Fernsehen könnd mir verbelle, was wand, die haben doch keine Ahnung, was da los ist, alle sind schuld, Ildi, die Serben schiessen von den Bergen, Izetbegovic opfert seine Menschen, damit er sagen kann, die Muslime sind Opfer und die Serben schuld an allem, und die Kroaten verbünden sich mit den Serben, wenn es ihnen gerade passt (mitten in Europa, denke ich, heute, nicht in der Vergangenheit), ja, ich höre sie rufen, sage ich plötzlich, um Dragana zu trösten, zu beruhigen oder um sie endlich zum Schweigen zu bringen, und Dragana hat einen Moment abgewartet, in dem wir allein sind, in der Küche (Vater, der einen Grosseinkauf macht, Marlis, die unten im Keller das Lager aufräumt), sag schon, wie hörst du sie? was hörst du genau, harsch du sie au am Nacht? Am Schlimmste isch es, wenn der Mond so rund und blöd isch, dann spucken sie mir alle ins Ohr, meine Schwester, mein Sohn, meine Tanten, sie spucken in mein Ohr und rufen nach mir, Dragi, Dragi, hast du uns vergessen? Ildi, weisch du, wie alt mein Sohn isch? nüün Jahr, jagt sie, neun Jahre alt sei er, und kann nüt komme, in Schwiiz (und Dragana streckt ihre Hände in die Höhe, als sei sie gerade verhaftet worden), fast vier Monate müssten sie noch warten, wegen dem Gesetz! das sei doch länger als ein Menschenleben, jetzt, wo jeden Tag Hunderte von Menschen sterben, und ich zucke zusammen, Dragana, die mir ein Foto hinstreckt, ich müsse ihn anschauen, ihren Sohn! Und nur widerwillig schaue ich ihn an, den Jungen mit seinem schüchternen Gesicht und Augen, die so schön sind wie nur Augen sein können; ein Kind in den Armen der Grosseltern und hinter ihnen ein Haus, ein halbes Haus, denke ich.

(Meine Mamika, deren Murmeln ich immer gehört habe, wenn ich schlaflos im Bett lag, das feine Geräusch ihrer Rosenkranzperlchen, die sich berührten, als Mamika sie drehte, weiterdrehte und dann, nach dem Beten, ihre Stimme, die klar und hell sang: Von meiner Mutter habe ich das Herz einer Taube, von meinem Vater habe ich das frohe, musik verliebte Gemüt. Meine Liebste, du mit dem weissen Seelchen, meine Eltern haben mich zu allem Schönen, Guten erlogen, zur Liebe und zu heissen Küssen…

Gestern, nachts, als ich schlaflos im Bett lag, habe ich mich an Mamikas Rosenkränze erinnert, Mamikas Überzeugung, dass Beten und Singen der harten Wirklichkeit wenigstens die äusserste Spitze nehmen können, und in den schlimmsten Zeiten ihres Lebens, da habe das fortwährende, lautlose Beten sie durch den Tag getragen, sie sei diesen Worten blind gefolgt, in die Zukunft, die es ohne diese Worte nicht gegeben hätte.)

Ich wusste, du hörst sie auch, sagt Dragana, küsst das Foto, lässt es wieder in ihrer Bluse verschwinden, und wenn die Schweizer ihren Sohn jetzt reinlassen würden, könnte er doch nicht kommen, weil er eingeschlossen sei in Sarajevo; und ich erschrecke darüber, dass Draganas Blick so fiebrig und hoffnungslos ist, wie sie mich anschaut, mir erzählt, dass sie ihren Sohn pfeifen hört, ganz hoch und durchdringend (die Wahrheit ist schrecklich und für niemanden bestimmt), und plötzlich, in diesem Moment, taucht Janka auf, wahrscheinlich weil Dragana nicht aufhört, von den Summen zu sprechen, die sie hört, ihrem Schuhmacher, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe, sogar sein altes Fahrrad quietsche in ihrem Ohr, und er habe oft mit ihr geschimpft, sie solle nicht so schief durch die Welt gehen; all unsere Tanten, Onkel, Cousinen, sie waren für mich schon immer da — aber Janka?

Dragana dreht sich von mir weg, packt den Sparschäler, rüstet Kartoffeln und Karotten, die einfachsten Tätigkeiten, die nicht mehr für sich stehen, nur davon zeugen, dass wir hier nichts tun, denke ich, sagt sie, und ich sehe es plötzlich klar vor mir, die beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen, wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen Jugoslawien, wie man sagt, das sind meine Feinde, und Dragana zeigt auf die Kartoffelschalen, fährt sich mit ihrem Handrücken über die Augen, ja, wir leben hier, wie die Schweizer, im Zuschauerraum, denke ich, das ist zumindest eine Wahrheit.

Draganas ganze Familie — dein Sohn, wie heisst er? Danilo! — , die in Sarajevo lebt, und Dragana schneidet mit der Spitze des Rüstmessers die Augen aus den Kartoffeln. (Die Olympischen Winterspiele 1984, damals, als das Fernsehen noch eine Verheissung war, die Resultate, die ich in die dafür vorgesehenen Listen eingetragen habe, wer hat damals Weltrekorde aufgestellt? Ingemar Stenmark? Oder Bojan Krizaj? Die klare Erinnerung aber an Mutter, die beim Anblick von Jane Torvill und Christopher Dean so gerührt war — dass ein Paar so übers Eis schweben kann —, die Jury, die einhellig die höchste Bewertung für die B-Note gegeben hat, ist das die Möglichkeit, sagte Mutter, mit Tränen in den Augen — wo ist Sarajevo, fragten wir damals Mutter, weil wir wissen wollten, wo dieses Wunder der Liebe möglich geworden ist, und Mutter schlug unseren Schulatlas auf, und wahrscheinlich fanden wir Sarajevo unter der Überschrift "Balkanländer".