Выбрать главу

Jetzt, 1993, ist das Olympiastadion zerstört, und direkt vor den Ruinen werden die Toten begraben, wer hätte das gedacht, sagt man, wer hätte das für möglich gehalten, schreibt man, und ich stelle mir vor, wie Jens Weissflog sich zum Sprung vorbereitet, wie er noch einmal tief durchatmet, bevor er sich kräftig abstösst, einspurt, tief in die Hocke geht, um dann abzuheben, Jens Weissflog, für immer und ewig über den Dächern von Sarajevo.)

Ich habe einen Brief bekommen, von meiner sestra, sagt Dragana, soll ich dir erzählen, was sie geschrieben hat? Nein, lieber nicht, denke ich, ich möchte nicht wissen, was Draganas Schwester geschrieben hat. Du, Ildi, die haben fast keine Bäume mehr, die brauchen alles zum Heizen, meine sestra sagt, die Stadt sieht aus wie ein gerupftes Huhn, Parke und Strassen ohne Bäume, aber das ist nicht das Schlimmste, die haben kein Wasser mehr zum Trinken, kein Wasser mehr, um ihre Scheisse wegzuspülen, nicht einmal die Spitäler sind geheizt… vielleicht später, unterbreche ich Dragana, erzähl mir später davon! Dragana, die sich mit einem Ruck umdreht, mich mit ihrem wirren Blick fixiert, du hast Angst, sagt sie, ist ja klar, wir alle haben Angst, habt ihr was von eurer Familie gehört? könnt ihr noch telefonieren? Und Dragana richtet das Rüstmesser gegen mich, als wäre ich eine grosse Kartoffel, der man gleich mehrere Augen ausstechen muss. Aber wahrscheinlich bin ich es, die daran denkt, sie aus dem Weg zu räumen, ich jedenfalls überlege mir, ob die Welt ein Problem weniger hätte, wenn wir beide, eine bosnische Serbin und eine Ungarin aus der serbischen Provinz Vojvodina, tot auf dem Küchenboden, auf einem Linoleumboden liegen würden. Nein, die Leitung ist tot, antworte ich (und alle, ausser Janka, haben sich bis anhin an der Beogradska getroffen, bei Onkel Móric und Tante Manci, weil sie bis heute die Einzigen sind, die ein Telefon haben, alle, auch die Ältesten trinken süssen, türkischen Kaffee, es gibt niemanden, der sich nicht die Hände wäscht, bevor er sich zum Telefon setzt, alle reihen sich auf dem Sofa auf, mit gestärkten Hemden, gebügelten Blusen, frisch bespuckten Scheiteln, denn man weiss nie, wozu die heutige Technik fähig ist, mit einem Mal kann das Telefon sehen, und ist es nicht schon heute so, dass man die Verwandten in der Schweiz sieht, den Bruder? Und ach, die Kinder! wenn man ihre Stimmen hört, wie sie durch die Leitung flattern? und es kann Stunden dauern, bis der Erste vom Sofa aufsteht, den Zirkel verlässt, wo jedes Wort der Verwandten nach dem Aufhängen des Hörers noch einmal gedreht und gedeutet wird, es ist ein den Nachmittag füllendes Ereignis, das Telefonieren mit dem Ausland).

Ildi, brauchst du eigentlich sonst noch was, fragt Dragana, ausser deinem Ei, Dragana, die jetzt die Restabfälle in den Kompost wirft, sich mit dem Handrücken die Stirn abwischt. Ja, einen Schinken-Käse-Toast und ein Spargel-Canapee (und ich werde die internationale Auskunft anrufen, um Jankas Telefonnummer herauszufinden, vielleicht hat Janka ein Telefon, vielleicht hat Janka ein Telefon, das noch funktioniert und: internationale Auskunft, das klingt doch schon wie ein Versprechen), seit wann kannst du nicht mehr anrufen, frage ich Dragana. Seit diese gottlosen Krieger, meine Serben! angefangen haben, von den Bergen zu schiessen. Ich schwöre dir, die machen mit uns, was sie wollen, erzählen uns, dass wir uns schon immer gehasst haben, die Serben, Kroaten und Muslime, ja, das würde ich gern glauben, glaubt ja niemand, der Herz hat, wir sind alle Bosnier, glaubsch mir? alle ihre Verwandten, die sich immer als Bosnier gefühlt hätten, so Dragana, werden jetzt als bosnische Serben bezeichnet, ihre Stadt, die sie lieben, die von Serben belagert wird, von Serben und Kroaten und Muslimen beschossen wird (und wenn es einen Irrsinn gibt im Kopf, dann dreht er sich immer schneller, er dreht sich rasend schnell um solche Begriffe), und Dragana fingert nach den Spargeln in der Dose, und dabei möchte ich wissen, warum sie auf dem Mond gelandet sind, Ildikö, die Politiker muesch doch alle in ein Rakete inestopfe und uf Mond ufeschüsse, und wenn sie dann noch genügend Benzin haben, können sie weiterfliegen, damit sie endlich ihren richtigen Gott finden, uns in Ruhe lassen, und Dragana spricht immer schneller, ihr Gemisch aus Schweizerdeutsch und Hochdeutsch, das sich immer mehr im serbokroatischen Singsang verliert, Draganas Konsonanten, die miteinander zu tanzen scheinen, Sarajevo ist bald ganz tot, wirst sehen, und sie bestreicht eine Toastscheibe mit Senf, belegt sie mit Schinken und Käse, das Ei hüpft inzwischen im heissen Wasser, warum glaubt jeder in Welt, wir Serben sind Menschenfresser, Ildi? und Dragana klemmt das belegte, bestrichene Toastbrot in den Toaster, Dragana und ich, zwei Tiere, die sich in die Augen schauen, wir, die Todfeinde sein müssten, weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? und ich zur ungarischen Minderheit in Serbien gehöre (der Irrsinn, der sich weiter dreht, in meinem Kopf, in allen Köpfen), und es ist absurd und absolut möglich, dass einer meiner Cousins desertiert, weil er als Ungar nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass ihn einer von Draganas Cousins erschiesst, weil er bei der jugoslawischen Volksarmee kämpft und Deserteure erschossen werden; es kann aber auch sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass dann mein Cousin Draganas Cousin erschiesst, weil mein Cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslimen, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche.

(Unsere Gäste, sind sie deutsche Schweizer oder schweizerische Deutsche?)

Dragana, die das Ei in den Becher setzt, mir den weissen Teller mit dem Canapee in die Hand drückt, den Toast musst du dir später holen, sagt sie, und ich, ich setze mich endlich in Bewegung, Richtung Buffet.

An diesem Apriltag lässt mich der Gedanke an Janka nicht mehr los, und ich versuche, die Anzahl der Jahre zu finden, die wir uns nicht mehr gesehen haben, ich klopfe den Satz in den dafür vorgesehenen Behälter, fülle den Kolben mit frischem Kaffeepulver, neun Jahre müssen es sein, denke ich, und ich merke nicht, wie ich das braune Pulver andrücke, ob ich es mit einer leichten Handbewegung tue oder ob der Druck zu stark ist, ich glaube, es sind neun Jahre, und natürlich höre ich Jankas Stimme, obwohl ich sie nur ein Mal gehört habe, das Ohr hat ein erstaunlich gutes Gedächtnis, und ich spanne den Kolben in die Halterung, muss Nomi, die heute serviert, fragen, ob sie einen hellen oder einen dunklen Milchkaffee bestellt hat, ob sie einen frisch gepressten Orangensaft, dies oder jenes bestellt hat, Dragana, die aus der Küche nach mir ruft, der Toast! und logischerweise muss Nomi fragen, auf welchem Planeten ich mich gerade befinde, ja, das frage ich mich auch, müsste ich antworten, ich müsste jetzt weit ausholen, sagen, dass sie und ich, wenigstens wir zusammensitzen müssten, um uns zu besprechen, zu planen, was wir tun könnten, ob wir uns nicht doch einmal mit Benno treffen sollten, mit seiner Mediengruppe, ich würde Nomi gern fragen, ob sie sich schon vorgestellt hat, dass unsere Familie diesen Krieg nicht überlebt, dass Grossonkel Pista nicht operiert werden kann, weil wegen dem Embargo die Medikamente fehlen, dass morgen vielleicht alle schon tot sind, Onkel Piri und Tante Icu, Csilla, weil sie zu den Ärmsten gehören, Janka, die Nomi sein könnte oder ich, von der ich nur weiss, dass sie ihr Wirtschaftsstudium abgebrochen hat, unsere Heimatstadt verlassen hat und in Novi Sad als Radiosprecherin arbeitet, unsere ganze Familie, die jetzt zur Vergangenheit gehört, die nicht mehr erreichbar ist, die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang existieren nicht mehr, und wir sind voneinander abgeschnitten, als hätte es nie einen verbindenden Weg gegeben, einen Zug, den man besteigen kann, der einem Fahrplan folgt, Schienen, die gelegt worden sind, wozu denn? Ich möchte Nomi fragen, wie wir Janka suchen könnten, ob sie glaube, dass man Vater nach Janka fragen könne, wie man das am Besten anstellen könnte (Nomi, die mir ein paar Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag gesagt hat, dass wir unseren Plan beerdigen müssten, es ginge nicht, wir könnten nicht zurück, das sei ein Kindertraum, wir hätten unser Herz hergegeben, und darin habe sich ein hohler Wunsch eingenistet, es sei doch bekannt, das typische Emigrantenschicksal, für die Zukunft sparen und dann in der alten Heimat unglücklich sein? nein! ich, die Nomi gefragt hat, ob sie hier glücklich sei, Nomi, die gelacht hat, wir sind Mischwesen und die seien tendenziell glücklicher, deshalb, weil sie in mehreren Welten zu Hause seien, sich wo auch immer zu Hause fühlten, sich aber nirgendwo zu Hause fühlen müssten), und Nomi, die ein Allrounder ist, in der Küche arbeitet, im Buffet, im Service, mit den Vertretern verhandelt, von allen gemocht wird, sie erinnert mich daran, dass die Zeit nicht optimal sei, wir hätten das Geschäft zu einem ungünstigen Zeitpunkt übernommen, aber wir schaffend trotzdem! wenn es keine Leute gäbe, die uns mögen würden, würden wir ja gar nicht erfahren, was über uns geredet werde! und Nomi klopft die Stummel in den Müll, oder? Und wenn die Schärers immer noch überall herumerzählten, wir hätten die Tanners bestochen, mit fünfzigtausend! was ihr übrigens neulich Frau Freuler anvertraut habe, dann sagen wir, nein! hunderttausend! wer hat behauptet, wir seien so knauserig? (und was ist mit der Herrentoilette, die ständig verpisst ist, will ich Nomi fragen, warum hat uns jemand die Tür mit falsch lachenden Sonnen verklebt?), Nomi, die mich darauf aufmerksam macht, dass es bereits nach elf Uhr ist, und ich spanne die Kolben aus der Cimbali, klopfe den Kaffeesatz der Reihe nach in den Behälter, spanne die Kolben wieder ein, lasse die Maschine ein Mal leer laufen, reinige mit einem dichtborstigen Pinselchen die Rillen der Maschine vom Kaffeesatz — das regelmässige Reinigen der Maschine ist die Voraussetzung für einen guten Kaffee —, fahre mit einem nassen Lappen um die Halterungen, wische so das verbliebene Kaffeepulver von den Sieben, die Cimbali, die ich ziemlich genau kenne, meine Hände, die ich in Verbindung mit der Cimbali immer genauer kennengelernt habe (Nomi und ich, die mit den Händen von Tante Icu arbeiten, davon bin ich überzeugt), hast du dir schon mal überlegt, dass die Situation in der Vojvodina ähnlich eskalieren könnte wie in Bosnien, sage ich leise zu Nomi, über die Cimbali hinweg, und meine Zunge fühlt sich beim Wort "eskalieren" nicht wohl, so unwohl wie bei "Balkankrieg" oder "Embargo". Ja, antwortet Nomi und klopft die Aschenbecher weiter an den Rand des Mülleimers, und wir schauen einander an, und ich sehe meine Schwester, die ich liebe, die jetzt, in diesem Moment, genauso ratlos ist wie ich.