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Juli

Mit unserem silbergrauen Mercedes fahren wir los, im April 1989, Vater und ich, das heisst Vater fährt, und ich sitze neben ihm, bin bereit, die Strassenkarte zu zücken, zu verhindern, dass wir uns verfahren, ich, die Autofahren schon immer verabscheut hat, versuche, mich zu konzentrieren, den Fahrer, meinen Vater, nicht mit unnötigem Geschwafel abzulenken. Wir fahren über München, sagt er kraftlos und: Schalt das Radio an, damit wir hören, was sie über den Verkehr sagen.

Sie sagen nichts Spezielles über den Verkehr, aber über das Wetter, dass es stürmen werde, schneien möglicherweise. Hast du Töne, sagt mein Vater, schneien! das hat uns gerade noch gefehlt. Und im geeigneten Moment strecke ich ihm die Wasserflasche hin, typisches Aprilwetter, sage ich. Kr nippt an der Flasche, antwortet, dass der April uns mit seinem Scheisswetter verschonen könnte, ja, da hat er Recht, denke ich (wir hätten auch nach Beograd fliegen und dann mit dem Bus weiterfahren können, aber Vater flucht, wenn es um's Fliegen geht, sind wir mit Beinen oder Flügeln zur Welt gekommen? und es bringt gar nichts, wenn man ihm sagt, dass Räder auch nicht unbedingt zu unserer Natur gehören).

Wir fahren, fahren sprachlos. Wenige Kilometer nach München machen wir einen kurzen Halt in einem kleinen Kaff, trinken Kaffee, rauchen. Ich suche nach einem Wort, das der Anfang eines Gesprächs sein könnte, ich, die diese Kaffkneipenatmosphäre schon immer verabscheut hat, blättere in der Speise- und Getränkekarte, lese ein paar Gerichte vor, die ich nicht kenne, und Vater fragt mich, ob ich etwas essen wolle, nein, antworte ich, ich hätte keinen Hunger. Und eigentlich will ich mit Vater über die Speisekarte reden, über das, was uns beiden vertraut ist, aber er zieht an seiner Zigarette, schaut an mir vorbei, und seit gestern hat sich hinter seinen Brillengläsern etwas Neues aufgetan, etwas völlig Unbekanntes, woran er mich, da bin ich mir sicher, nicht beteiligen möchte. Vergiss nicht, aufs Klo zu gehen, sagt er und nimmt die Brille von der Nase, reibt sich die Augen, ich möchte bis Salzburg durchfahren. Gut, antworte ich, drücke meine Zigarette aus, so, dass sie nicht mehr weiterqualmt, und einen Moment lang schaue ich meinem Vater in die schutzlosen Augen, und ich würde gern einen Trost finden, mein Herz würde ihn gern geben, diesen Trost, jetzt, da mein Vater ein hilfloses Kind ist, aber ich, ich bin auch ein hilfloses Kind, seines, wenigstens das würde ich ihm gern sagen, ich stehe auf, verschwinde rasch Richtung Toilette.

Es fängt tatsächlich an zu schneien, die Flocken wirbeln gegen die Frontscheibe, bevor der Scheibenwischer im raschen Takt und für kurze Momente wieder freie Sicht verschafft. Wenn diese Hunde wenigstens lügen würden, sagt mein Vater, Ildi, schalt das Radio wieder an, damit wir wissen, ob wir hier noch eingeschneit werden (und ich überlege mir, ob das passen würde, dass wir beide, mein Vater und ich, stecken bleiben, nicht mehr weiter kommen würden, ja, denke ich, es würde passen zu unserem Leben, es wäre sehr gut möglich, dass wir nicht mehr weiter kommen, dass uns das Schicksal zwingt, still im Auto zu sitzen, im Wissen, dass unsere Familie vergeblich auf uns wartet), und wir hören den Sprecher, der die Witterungsverhältnisse als schwierig bezeichnet, man solle vorsichtig fahren, sagt er; ich fresse gleich deinen Schnabel, flucht mein Vater, welcher Idiot fährt jetzt nicht vorsichtig? Sag uns lieber, wann uns der Himmel wieder in Ruhe lässt, und ich halte meinem Vater die Wasserflasche hin, er winkt ab, hab ich Durst, wenn es so schneit? Und ich, ich sehe Mamika vor mir, die in ihrem festlichsten Kleid aufgebahrt liegt, die Schneeflocken bedecken ihr Gesicht, tun ihm nichts an; ich frage mich, ob sie sie morgen aufbahren, wenn das Wetter so bleibt, ich frage mich, ob Osterglocken auf dem Markt bereits erhältlich sind, wahrscheinlich nicht, Traubenhyazinthen, die Mamika so geliebt hat, würde ich vermutlich bekommen. Mein Vater fährt immer langsamer, da der Schnee immer dichter fällt, so kommen wir nie an, und er schnappt sich eine Zigarette, presst sie zwischen die Zähne, und seine Geste zeigt, dass es jetzt nichts Dringenderes zu tun gibt, als eine Marlboro zu rauchen, um die Nerven nicht zu verlieren, der bläuliche Qualm, der hilflos gegen die Frontscheibe wirbelt, was soll ich tun, fragt Vater unvermittelt, und ich, die vor lauter Überraschung fast nicht antworten kann, sage: Warten.

Warten? auf wen? worauf? flucht Vater nach einer kurzen Pause, er muss seinen Flüchen freien Lauf lassen, die Wörter, die wüsten, derben, fliegen wie flinke Fische aus seinem Mund, und ich habe ihm nie gesagt, dass ich nichts lieber höre als seine Verwünschungen und Flüche; in diesen Momenten nämlich, wenn Vaters Zunge vor Aufregung federnde Geräusche produziert, den Kommunisten oder sonstigen Verbrechern der Menschheitsgeschichte Beine macht, aber hoppla! dann weiss ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass sie wirklich glänzen — Stalin, schickst du uns einen sibirischen Gruss aus deinem unterkühlten Arsch, willst du uns jetzt schon die Laune verderben, noch bevor wir angekommen sind, Adam und Eva, die immer noch unschuldig und besitzlos sind, nackt in deinem sozialistischen Paradies herumlaufen? — , aber sollte mir das nie gelingen, so bin ich mir immerhin sicher, dass Vater losballert, um zu verhindern, dass seine Muttersprache auskühlt, solange das Fluchen noch fliesst, können die geliebten Wörter doch unmöglich absterben, oder? (Und wenn es möglich wäre, Vaters Wendungen in die andere Sprache, ins Deutsche zu überführen, dann könnte ich ihm zeigen, dass ich seine Art, sich fluchend oder schweigend mitzuteilen, verstehe. Wenn nämlich bereits ein Wort keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes Leben in der neuen Sprache erzählt werden? dann kann nur das Schweigen oder die verkürzte, dramatische Form des Fluches davon erzählen, wie es gewesen ist, wie es gewesen sein könnte; das würde ich Vater sagen, und wahrscheinlich wäre er erstaunt darüber, dass ich mir über ihn, über seine Sprache Gedanken mache.)