Der Rastplatz, auf dem Vater unseren Wagen schliesslich zum Stillstand bringt, ist fast voll, wir werden also warten, bis Gott wieder lächelt, sagt er und stellt den Motor ab, seine Hände, die reglos auf dem Steuerrad bleiben, seine Finger, die auffällig kurz und kräftig sind, ob er ein Eingeklemmtes wolle, frage ich ihn, wir hätten Schinken oder Salami, und Vater antwortet, dass das hier eine merkwürdige Versammlung sei, und deutet mit seinem Blick auf die Autos, die zu Dutzenden stillstehen, deren Kühlerhauben schon zentimeterdick mit Schnee bedeckt sind, Schinken sei ihm jetzt lieber, und als Vater sein Eingeklemmtes auspackt, bricht er in Tränen aus.
Die Frühlingsnacht war sternenlos, und ich erinnere mich, dass mir, als ich meine Zimmertür öffnete, die kugelförmige, funktionale Hässlichkeit der Laterne, die den schmalen, von Hainbuchen gesäumten Fussweg beleuchtete, erstmals auffiel, da der Rollladen des Korridorfensters ungewöhnlicherweise nicht heruntergelassen war; meine Annahme, die mich, als ich lesend auf dem Bett lag, augenblicklich fassungslos machte, dass es Vater sein könnte, den ich weinen hörte — ich, die meinen Vater bis anhin nur fluchen, schimpfen, schnarchen, lachen, summen gehört hat, blieb in der Zimmertür stehen, dachte, dass die Laterne in ihrer Hässlichkeit verloren wirkte, weil niemand da war, dem sie den Weg erhellen konnte.
Mutter sass Vater gegenüber, am kleinen runden Tisch im Korridor, versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen, versuchte, ihm den Hörer aus der Hand zu nehmen. Vater aber schien sich direkt an den Hörer zu klammern, während sein Schluchzen in die Sprechmuschel fiel.
Es dauerte lange, bis Vater etwas sagen konnte, und in dieser Ewigkeit, in der sein Kopf in einer grotesken, hilflosen Bewegung zitterte, sich sein Körper vom Schluchzen verkrampfte, hätte ich mich gern wieder ins Zimmer verzogen, wäre gern, wie es Kinder tun, unters Bett gekrochen, um mit allem etwas zu tun zu haben, nur nicht mit der Wirklichkeit. Aber ich, ich blieb reglos stehen, liess es zu, dass mein Kopf aus der Strassenlaterne einen Mond formte, der uns mit einem grässlichen Mund angrinste, ich verhinderte es nicht, dass meine geliebten Bäume zu Schatten erstarrten. Und ich hielt es sogar für möglich, dass der Mond sprechen konnte. Oder war es nur Vaters Mund, der endlich den Satz hervorbrachte: Mamika ist gestorben.
Ein guter Pfarrer ist einer, der die richtigen Worte findet und dann schweigt, hat Mamika einmal gesagt, als ich sie als Kind gefragt habe, warum sie immer von "unserem guten Herrn Pfarrer" spricht. Daran denke ich, als ich mit gefalteten Händen zusehe, wie zwei Männer Mamikas Sarg an robusten Seilen in die ausgehobene Erde hinunterlassen und die Umstehenden, die Überlebenden, je mehr sich der Sarg in die Tiefe bewegt, von einer immer heftigeren Gemütsregung erfasst werden (und 1989 wird in meine persönliche Geschichte eingehen, sicher werde ich später, wenn ich mich an 1989 erinnere, an den Mauerfall denken, an meine Verwunderung, dass Schweizer Studenten in ihrer Euphorie, ihrem Hunger nach Berlin reisen, um den Fall der Mauer mitzuerleben, um zu jubeln, dass sie jetzt bei einem historischen Moment dabei sein können; sicher werde ich an vieles denken, das 1989 geschah, aber in meiner Geschichte wird in diesem Jahr Mamika gestorben sein, ich werde für mehr als ein Jahrzehnt das letzte Mal in meiner Heimat gewesen sein, und meinen Vater werde ich so gesehen haben wie noch nie zuvor), aber ich will mich weigern, traurig zu sein, als ich die Aufschriften lese, die die Schleifen der Blumenkränze schmücken, Deine Dich liebenden Söhne, ruhe in Frieden; unsere liebe Frau Anna, die von uns gegangen ist, schluchzt eine von Mamikas Freundinnen. Deine Dich liebenden Enkelinnen, denke ich und drücke mich in meine Schuhe, warte auf den geeigneten Moment, um die winzigen, blauen Blümchen auf den Sarg zu werfen, der unerwartet dumpfe Aufprall des Sträusschens, an den ich mich heute noch erinnere, und in Gedanken singe ich eines von Mamikas Lieblingsliedern: Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise /Hessen, die Ufer umspülen, die Gräser zum Leben erwecken, den durstigen Vögeln Wasser schenken…
Und nachdem alle eine Handvoll Erde auf Mamika geworfen haben, die einen noch mit gedämpften Stimmen etwas zu Mamikas beschwerlichem Leben zu sagen gewusst haben und andere, so auch mein Vater, immer wieder von den Tränen überwältigt worden sind, setzen wir uns, an diesem bitterkalten Apriltag 1989, endlich wieder in Bewegung; die Kastanienbäume, deren schüchterner Frühling durch den gestrigen Wintereinbruch gestört worden ist, die aber durch ihr leuchtendes Weiss die Schwere unserer Trauergesellschaft glücklicherweise nicht ernst nehmen.
Mein kleines Mädchen, sagte Mamika, Wasser ist Gold.
Ich, die gelernt hat, Wasser vom Ziehbrunnen zu holen, nicht zu trödeln, sich nicht ablenken zu lassen von den Rosen, den Nachtviolen, die neben dem Ziehbrunnen wachsen, von der Katze, die spindeldürr mit gestrecktem Schwanz um meine Beine streicht, die Mamika bei jeder Gelegenheit als Schmarotzerin und Taugenichts beschimpft, ich trage die emaillierte, bis zum Rand gefüllte Kanne mit beiden Händen, Füsse, die langsam, aber stetig vorwärts trippeln, um ja nichts zu verschütten, keinen einzigen Tropfen, flüssiges Gold, sagt Mamika, als sie sich nach mir mit dem trüben, seifigen Wasser wäscht, im Badezimmer, das gleichzeitig die Küche ist, meine Augen, die nicht hinsehen wollen, nur neugierig und schamvoll blinzeln, um ein kleines bisschen Gold von Mamikas Haut zu stehlen. Warum ziehen Sie Ihr Unterkleid nicht aus? frage ich, meine Grossmutter, die ihren Zopf gelöst hat, deren graues Haar bis zu den Hüften reicht, sagt, Liebes, geh in den Garten, spiel etwas Schönes, geh schon! Und ich schiebe meinen senfgelben Schemel zur Hauswand, besteige ihn, halte mich zuerst gebückt, strecke mich dann langsam, ziehe den geblümten Vorhang des geöffneten Küchenfensters zur Seite, Mamika, die sich über die Emailleschüssel beugt, und ich kann ihren nackten Rücken sehen und ihre überdimensionierte Unterhose, rosafarben, eine Art Kosakenhose, die wegen dem sich unterhalb der Knie befindlichen Gummizug hässlich pludert. Und ich wünsche mir augenblicklich, diese Unterhose nie gesehen zu haben, weil sie in ihrer Grösse und Unförmigkeit beschämend ist, meine zierliche Mamika, die völlig unverständlicherweise in diesem Sack steckt, in dem man leicht zwei mal zwei Hühner verschwinden lassen könnte. In dieser Unterhose dürfte sie in der Schweiz nicht einmal schlafen, dachte ich damals, und dieser Gedanke kam mir gemein vor, gemein, aber logisch.
Warum fällt mir gerade das ein? und ich hebe den Kopf, um den Himmel zu sehen in seiner Ratlosigkeit, mein Vater, der sich bei mir einhakt, es nicht vermeidet, mich mit verweinten Augen anzuschauen, und wir entfernen uns langsam von Mamikas Grab, Cousins, Cousinen, nahe und entfernte Verwandte, Grossonkel Pista, der letzte noch lebende Bruder von Mamika, Onkel Móric, der seinem Bruder — meinem Vater — die Hand auf die Schulter legt, und ich weiss später nicht mehr, ob dieses monotone, fast lautlose Gehen unserer Familie, der Gang eines Kollektivs, das durch den Verlust eines geliebten Menschen nur noch den beschwerlichen Lauf der Dinge spürt, dafür verantwortlich ist, dass die Tränen plötzlich aus mir herausbrechen, als hätte ich noch nie in meinem Leben geweint; oder ob es womöglich Juli ist, die kindliche Idiotin! die sich beim Friedhofsausgang am rostigen Metallzaun festklammert und mit einer unheimlichen Stimme nach meiner Grossmutter ruft: kedves Panni neni, Panni neni, kedves Panni neni (geliebte Frau Anna — Mamika, die uns oft ermahnt hat, Juli nicht zu verspotten, Gott sucht sich manchmal ganz besondere Geschöpfe aus, um mit uns zu sprechen, sagte sie), Julis Rufen, das von einem glasklaren Wimmern unterbrochen wird, als würde das Leben nur noch die Sprache des Schmerzes kennen, ich, die nicht mehr aufhören kann zu weinen, vielleicht, weil Julis Füsse der Kälte schutzlos ausgesetzt sind, ihre Zehen sich über ihre offenen, ausgelatschten Schuhe krümmen, und ich würde etwas darum geben, wenn Juli mich mit ihren von der Zeit unbeeindruckten Augen anschauen, mich um ein Zückerchen bitten würde, aber ihr Jammern zerrt am Gesetz des Masshaltens, das in solchen Momenten das eigene Überleben sichert — denn es darf nicht unerträglich sein, einen geliebten Menschen zu verlieren —, und ich kann nicht mehr aufhören zu weinen, weil Juli mich unerbittlich daran erinnert, dass jetzt ein Leben, mein Leben ohne Mamika beginnen muss.